Im Sommer sterben (German Edition)
konzentrierte sich auf eine helle Wolke, die mit der Bewegung der Augen auf und nieder hüpfte.
»Hallo, was hast du?«
Sie kannte die Stimme, öffnete ihre Augen und sah durch einen dicken Schleier aus Tränen zwei Beine, die in dunklen Hosen steckten. Lichtperlen tanzten auf dem matten Schwarz, und als sich der Schleier auftat, war es Claudio Jagmetti, der sie besorgt ansah.
»Weinst du?« Er nahm den Stuhl, den sie für ihn freigehalten hatte, zog ihn neben sie und setzte sich. Er küsste zärtlich ihre Augenwinkel, fuhr mit seinen Lippen über ihre Lider und ihre Nase. Er spürte das Salz der Tränen auf seiner Zunge, roch ihren Hals und ihre Schläfe und wusste plötzlich wieder, warum er seinen ganzen Verstand über den Haufen geworfen hatte und hierher gefahren war.
»Weißt du eigentlich, wie viele gut aussehende Kerle ich in die Flucht schlagen musste … Ich hatte schon Angst, du kommst gar nicht mehr.«
»Ich musste dich einfach sehen.«
»Ich dich auch.« Sie nahm seine Hand, rieb ihre feuchte Wange daran, leckte sie zärtlich, küsste sie, grub ihre kleine Nase zwischen seine Finger und sah ihn lange und wortlos an.
»Soll ich zu dir? Ich meine, wir könnten …« Jagmetti wusste nicht, wie er es sagen sollte.
»Ich weiß nicht, ob das klug ist, Claudio.« Sie fuhr langsam mit ihren Fingern zwischen die seinen und hielt seine Hand fest, als drohe sie ihr zu entgleiten. »Ich wollte dich einfach noch mal sehen, bevor ich gehe.«
»Was willst du?« Jagmetti stockte. Jetzt war er es, der ihre Hand drückte, dass sich das Braun ihrer Finger weiß färbte. »Das ist überhaupt nicht klug, wenn du jetzt einfach verduftest.«
»Vielleicht.« Sie zögerte einen Moment. »Aber ich muss weg, Claudio. Die Dinge spitzen sich zu. Man verdächtigt mich, was ich sogar verstehen kann.«
»Wenn du jetzt abhaust, ist das wie ein Geständnis. Man wird dich finden.«
»Ich hab niemanden umgebracht. Ich weiß es, und du weißt es auch. Du bist ein Mensch, der so etwas spürt.«
»Eschenbach denkt auch so.«
»Meinst du? Es ist erst ein paar Tage her, seit Philipp ermordet wurde, und der Druck auf Eschenbach wächst …«
»Er wird es schaffen.«
»Mag sein. Ich hoffe es ja auch. Aber was ist, wenn nicht? Wenn du in ein paar Wochen der Einzige bist, der mir noch glaubt? Du bist nicht mehr neutral, Claudio. Du bist …«
»… nur ein kleiner Praktikant?«, unterbrach er sie. »Ist es das, was du sagen willst?«
»Nein, darum geht es doch nicht. Selbst wenn du Kommissar wärst … Für die Leute, die den Fall beurteilen werden, bist du befangen. Ein netter, grundehrlicher Polizist. Verliebt und deshalb völlig unbrauchbar.«
»Und für dich?« Er fuhr mit den Fingern entlang der kleinen Narbe an ihrem Handgelenk, sah sie an und lächelte. »Was bin ich für dich?«
»Du bist …« Sie strich die Haarsträhne glatt, die sich kräuselnd um ihr Kinn gelegt hatte. »Ich weiß nicht. Ich hab das Gefühl, dass wir uns schon ewig kennen, Claudio.« Sie sah ihn eine ganze Weile schweigend an. »Wenn die Zeit knapp wird, fehlen einem plötzlich die Worte. Ich wollte dich einfach noch einmal sehen.«
Er wollte etwas sagen, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es fiel ihm nichts ein.
»Ich bin keine Mörderin, Claudio. Schau mich an.«
Jagmetti sah sie an. Ihre Sommersprossen versteckten sich hinter verschmierter Wimperntusche, und die feinen Striche in ihren Augenwinkeln waren kaum noch zu sehen. Lachfalten versagen immer, wenn es traurig wird, dachte er.
»Ich habe ein paar Dinge getan, von denen du nichts weißt. Vielleicht kommen sie irgendwann ans Tageslicht, dann kannst du dir selbst ein Bild davon machen. Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen. Es ist nichts Unrechtes. Wenigstens nicht für mich.«
Jagmetti nickte. Er dachte an die Nacht, die sie zusammen verbracht hatten. Sah, wie ihr kleiner Busen hüpfte; wie sie auf ihm saß, spürte ihre Bewegungen, wie sie sich an ihm rieb und ihn zärtlich in sich aufnahm. Er sah ihr Lachen und das fröhliche Blau ihrer Augen. »Sehen wir uns wieder?« Es brach aus ihm heraus. »Ich meine irgendwann, wenn alles vorüber ist?«
»Vielleicht.« Sie stand auf und küsste ihn auf die Nasenspitze. »Mach’s gut, Claudio … ich denke, es ist besser so.« Sie lächelte noch einmal kurz; dann drehte sie ihm den Rücken zu und schob sich zwischen den Leuten hindurch in Richtung Ausgang.
Jagmetti, dem zu dämmern begann, dass er Doris nicht einfach gehen
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