Im Sommer sterben (German Edition)
ist sicher noch hilfreich.« Der Beamte beobachtete Eschenbach, wie er, die Augen halb geschlossen, lustlos an seiner Brissago sog. Er tat ihm Leid, dieser groß gewachsene Mann, der äußerlich so robust schien, als könne ihm nichts etwas anhaben; und vor dem nun ein grauer Bundesordner lag, mit vierhundert Zentnern schwerstem Dreck. Er sah, dass die CD keine große Hilfe war.
»Ein Drittel«, murmelte Eschenbach. »Warum ist der ganze Sauhaufen nicht besser verteilt? Sechsundzwanzig Kantone. Warum nicht ein arithmetisch korrektes Sechsundzwanzigstel? Oder ein Dreizehntel … das wäre mir auch noch gleich. Oder ein Achtel. Haben wir nicht schon genug mit der Russen-Mafia? Mit der Tschetschenen-Mafia? Mit der serbischen, der kroatischen, der aserbaidschanischen und der kosovo-albanischen Mafia? Sind wir nicht schon das Drogenmekka und der größte Puff? Und jetzt hocken auch noch diese ganzen Pädophilen hier.« Eschenbach nahm den Ordner und wollte aufstehen. »Warum wohnen die nicht im Aargau? Oder im Thurgau? Oder von mir aus im Appenzell?« Er stand auf, knallte den Ordner zurück auf den Tisch und ging ein paar Schritte hinüber zum Fenster.
Er sah auf die Straße hinunter. Der Asphalt hatte den nächtlichen Regen aufgesogen. Oder war es die Sonne, die das Wasser verdunsten ließ? Jedenfalls war es wieder trocken. So trocken, als hätte es nie geregnet. Und wieder begann sich neuer Staub zu setzen. Man konnte ihn nicht sehen, aber Eschenbach wusste, dass er sich wieder setzen würde, dass es ihn gab. Er war einfach da, dieser feine gräuliche Dreck. Perfekt getarnt legte er sich auf die Straßen und Gehsteige. In die Ritzen und Fugen verkroch und verhockte er sich, bis er beim nächsten Gewitter von einem Platzregen oder bei der nächsten Putzaktion von einer städtischen Reinigungsmaschine weggefegt werden würde. Und wieder käme neuer Staub und neuer Schmutz dazu. Ein Perpetuum mobile aus mikroskopischem Dreck. Was mit bloßem Auge so putzig und säuberlich aussah, war in Wahrheit ein einziges, nie sauber werdendes Dreckloch.
Und trotzdem, er liebte diese Stadt. Er liebte die staubigen Hinterhöfe im Kreis Vier, in denen er als Kind zwischen Teppichstangen Fußball gespielt hatte, und in denen er heute als Polizist Drogendealer davon abhalten musste, Heroin an Minderjährige zu verkaufen. Er mochte die eleganten Straßen und die herausgeputzten alten Häuser, die, wie aus dem Ei gepellt, jeden Sommer Heerscharen von Touristen ein Stück Schweizerischer Idylle vorgaukelten. Er liebte den Geruch des Seewassers und den Blick auf die schneebedeckten Alpen, die bei Fönlage einem so nah schienen, als stünden sie im Wasser.
Er liebte Zürich auch im Winter. Wenn mit der Nässe und Kälte auch der Nebel aufzog und die Stadt ihre Schwere und Melancholie zurückbekam, die sie im Sommer verloren hatte. Dann liebte er sie ganz besonders.
Er drehte sich um, ging an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich.
Bucher saß immer noch da, hatte die Beine von sich gestreckt und zog sie, als Eschenbach zurückkam, wieder ein. Er zupfte an seiner Brille und versuchte ein Lächeln.
»Eine schöne Bescherung, die Sie mir da unterjubeln«, Eschenbach deutete auf den Ordner. »Das ist ein Riesending, sage ich Ihnen … das fliegt uns allen noch um die Ohren.« Es klang müde und abgekämpft.
»Wird schon schief gehen«, sagte Bucher. Diesmal klappte es mit dem Lächeln. »Bei Ihnen ist es in den besten Händen. Wir wären froh, es gäbe mehr von Ihrer Sorte …«
»Auch Heuchler müssen sterben«, unterbrach ihn Eschenbach. »Wenn Sie mir schmeicheln wollen, gebe ich’s gleich wieder zurück.«
Beide lachten.
»Sollten Sie Hilfe brauchen: Meine Nummer steht im Bericht.«
Eschenbach winkte ab. Dann kamen ihm die Videos aus Bettlachs Haus in den Sinn, die er sich ins Präsidium hatte bringen lassen.
»Eine kleine Bitte hätte ich doch noch.«
»Und die wäre?« Bucher, der schon halb aufgestanden war, setzte sich wieder.
»Ich habe eine Hand voll Videos. Kinderpornographisches Material, schreckliches Zeug. Beweisstücke aus einem Mordfall, den wir hier haben.«
»Der Mord auf dem Golfplatz?«
»Genau. Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie mir genauer anzusehen.« Er zögerte einen Moment, sah Bucher an, als hoffe er, dass er ihm für seine windige Ausrede Absolution erteilen würde.
Bucher schwieg, kratzte sich am Kinn und wartete.
Eschenbach fragte sich, ob er es bei dieser Notlüge belassen sollte. Es war
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