Im Sommer sterben (German Edition)
lassen konnte, sprang auf. Er hastete dem weißen T-Shirt hinterher und rempelte dabei eine junge Frau mit weißblonder Mähne an. Sie kam wie aus dem Nichts; auf hochhackigen Cowboy-Stiefeln und mit diesem vielsagenden Lächeln. Der Drink, den sie in der Hand gehalten hatte, spritzte hoch und ergoss sich über sie und ihn und ein paar umstehende Gäste.
Tomatensaft, dachte Jagmetti. Er war zu Boden gegangen und fuhr mit der Zunge über seine aufgeplatzte Lippe.
»Du hast ihm die Nase gebrochen«, schrie die Blondine den Kleiderschrank an, der neben ihr stand und sich die Hand rieb. Ihr enges, sandfarbenes Top war übersät mit hässlichen, dunkelroten Flecken.
Das kann unmöglich alles Blut sein, dachte Jagmetti. Eine Bloody Mary vielleicht … Er fasste sich ins Gesicht. Betastete Nase, Kinn und Oberlippe. Helles Rot klebte an seinen Fingern. Nochmals ließ er die Zunge kreisen. Wenigstens waren die Zähne unversehrt. Er stand auf.
»Verdammt noch mal«, grunzte der Typ neben dem Mädchen. »Du hast ihr das ganze Kleid versaut.«
»Schon gut«, stammelte Jagmetti. »Hab’s ja nicht absichtlich getan. Tut mir Leid.« Er hatte keine Lust auf eine Schlägerei, und in seinem Kopf kreiste nur ein Gedanke: Wo war Doris? Während er noch ein paar entschuldigende Worte murmelte, sah er zum Ausgang. Sein Blick schweifte über die Köpfe der Gäste hinweg. Dann sah er nach links, durch die offen stehende Fensterfront hinaus auf den Gehsteig.
Doris Hottiger war verschwunden.
14
Es regnete graue Bindfäden. Eschenbach hatte keinen Schirm; er war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch einen besaß. Er wusste nicht, wo er den Letzten liegen gelassen hatte. Wenigstens hatte er sein Jackett wieder, und was noch wichtiger war, die Aufzeichnungen des Gesprächs mit Dr. Bettlach.
Rosa Mazzoleni hatte die Taxiunternehmen abgeklappert. Telefonisch natürlich, und als sie fündig wurde, hatte sie das Jackett abholen lassen. Es stank infam. Speckpolster und grüner Duftbaum: Note Waldfrieden. Ein Schuss kalter Rauch rundete das Bouquet ab. Eschenbach hielt es sich über den Kopf, als er mit ausladendem Schritt die Löwenstraße überquerte und auf der anderen Seite unter dem Vordach eines Kaufhauses wieder Schutz fand. Männer in Nadelstreifenanzügen standen zwischen Frauen mit Kopftüchern: das Tuch dem Glauben zuliebe und nicht dem Regen zum Trotz.
Frauen wie Männer warteten, dass der Regen nachließ. Aber es kübelte sintflutartig vom Vordach. Eschenbach hatte das Gefühl, er stünde im Wasser. Rahmengenäht mit Ledersohlen. Qualitätsschuhe aus England sind keine U-Boote, dachte er. Warum ließ er sie nie besohlen? Es empfehle sich, predigte Giuseppe, bei dem er seit Jahren Kunde war. Zürich sei nicht Mailand, und es spiele auch keine Rolle, dass die Schuhe aus England kämen. Leder sei nun mal Leder und vertrage Feuchtigkeit nur in Maßen. Egal, ob in Zürich, London oder Mailand. Eine Gummibesohlung sei ein must , besonders im Winter. Jetzt war Sommer, zumindest auf dem Papier. Oder war er schon vorbei?
Im Kaufhaus drinnen herrschte Sommerschlussverkauf, und auf bunten Plakaten war von Preisstürzen die Rede.
Von Wasserstürzen steht da nichts, dachte Eschenbach. Zuerst die Hitze, jetzt dieser Weltuntergangsregen. Er entschloss sich zu warten und an der Früchtebar einen Espresso zu trinken. Säfte mochte er nicht. Er bekam davon Sodbrennen, und das waren ihm die Vitamine nicht wert. An der Bar standen die Nadelstreifenanzüge und saßen die Hausfrauen. Sie warteten, dass Regen und Preise nachlassen würden.
Das Meeting, von dem er kam, war ganz zu seiner Zufriedenheit verlaufen. Elisabeth Kobler hatte ihn ausdrücklich gebeten mitzukommen. Er ging sonst nur selten auf die Treffen, die Kobler mit dem Kommandanten der Stadtpolizei abhielt. Er fand, dass er dort nichts verloren hatte. Die Stadt- und die Kantonspolizei waren zwei verschiedene Paar Schuhe und hatten ein besonderes Verhältnis zueinander. Wie Tochter und Mutter, wobei sich die Tochter schon seit Jahren pubertierend verhielt. Kobler war jedenfalls dieser Ansicht.
Eschenbach hatte keine Mühe damit; er war selbst lange bei der Stadt gewesen und kannte die meisten, von den Frischlingen einmal abgesehen. Mit fast allen verstand er sich gut, und es war nun einmal so, dass bei Kapitalverbrechen der Kanton den Fall und seine Chefin das Zepter übernahm. Und am Ende landeten die brisanten Fälle bei ihm auf dem Tisch. Mord und internationale Delikte,
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