Im Sommer sterben (German Edition)
den Zapfenstreich …« Eschenbach merkte, dass er schon wieder schrie.
»Nein, natürlich nicht. Aber …«
»Aber was? Jagmetti, Sie machen mich noch fertig!«
»Ich habe es kopiert.«
»Also doch gestohlen.« Eschenbach nahm die Füße von der gegenüberliegenden Sitzbank, stand auf und tigerte im Abteil herum, wie ein Ozelot im Zuchtkäfig. »Wir dürfen uns keinen Formfehler leisten, Jagmetti!«
»Ich weiß, Chef.«
»Sie wissen gar nichts, Jagmetti. Und sagen Sie nicht immer Chef!«
»Okay, Chef. Ich meine … okay.«
»Wenn Hottiger damit nur das Geringste zu tun hat, dann ist einmal Husten schon ein Formfehler.« Eschenbach dachte an Kobler und daran, dass er sich bei Hottiger immer noch nicht entschuldigt hatte.
»Das Original ist wieder an seinem Platz«, kam es beschwichtigend von dem jungen Polizisten.
»Wer hat Ihnen das erlaubt … ich meine, wie kamen Sie überhaupt in das Büro rein?«
»Mit der Büroordonnanz.«
»Was! Einfach so?«
»Der Feldwebel hat … der war beim Kartenspiel im Restaurant.« Jagmetti erzählte ihm die ganze Geschichte.
»Ach du Scheiße …« Eschenbach setzte sich wieder auf seinen Platz. »Und Sie sind sicher, dass das Original wieder dort ist, wo es hingehört?«
»Ja. Sicher, Chef.«
»Sie haben schon wieder Chef gesagt!«
»Was soll ich denn sagen?!« Jagmetti klang sauer. »Nicht-Chef vielleicht? Wäre Ihnen das lieber?«
» Vielleicht ja!« Eschenbach grunzte. »Haben Sie es wieder eingeschlossen?«
»Nein. Das Ding lag auf dem Tisch … wieso eingeschlossen?«
»Und auf den Tisch haben Sie es wieder zurückgelegt?«
»Ja, logisch.« Jagmetti verstand offensichtlich nicht, weshalb Eschenbach ein solches Theater machte.
»Haben Sie es bei sich, Jagmetti?«
»Ja.«
»Ich meine die Kopie.«
»Ja, die Kopie. Logisch, Chef.«
»Nicht-Chef«, raunzte Eschenbach.
»Logisch, Nicht-Chef«, Jagmetti kicherte.
»Dann passen Sie drauf auf. Schließen Sie sie ein. Sitzen Sie drauf, schlafen Sie drauf …«
»Mache ich.«
»Ich will das Ding sehen, sobald ich zurück bin. Ist das klar?«
»Ja.«
»Und nur ich, sonst niemand. Ist das auch klar?«
»Das ist auch klar … ja. Ich glaube, ich habe Sie schon verstanden.«
»Und sonst? Ich meine, ist sonst noch was?«
»Nein – außer dass, ich meine …« Jagmetti zögerte einen Moment.
»Außer was?«, wollte der Kommissar wissen.
»Wir haben von Doris Hottiger immer noch keine Spur … habe ich gehört.«
»Ja, ja, das Mädchen«, brummelte Eschenbach. »Die werden wir schon finden, keine Sorge.«
»Meinen Sie?« Jagmetti klang wenig zuversichtlich.
»Es läuft eine Großfahndung nach der Hottiger – die kommt nicht weit, glauben Sie mir!«
»Na dann, wenn Sie es sagen.«
»Herrgott, seien Sie nicht so pessimistisch! Klar, werden wir die finden. Das wäre ja gelacht …« Dann musste Eschenbach daran denken, wie er den Zoll in Basel so mir nichts, dir nichts hatte passieren können. »Ist das alles, oder haben Sie noch was?«
»Nein. Sonst habe ich nichts mehr …« Es folgte nur noch ein knappes »Okay« und dann war die Leitung tot.
Eschenbach drehte den knorrigen Zigarillo mit Daumen und Zeigefinger im Mund hin und her. Sog und paffte. Grau-blauer Dunst umspielte das Licht, das von hässlichen Lichtstrahlern ins Abteil geworfen wurde. Trotz des beißenden Rauchs konnte er sich an den feinen Geruch erinnern, den er wahrgenommen hatte, als ihm Doris Hottiger an jenem schwül-heißen Nachmittag in seinem Büro gegenübersaß. Er war nicht aufdringlich. Es war nicht jene starke, moschusgeschwängerte Schwere gewesen, die vielen teuren Frauenparfüms gemeinsam ist. Es war eine leichte, hüpfende Sinnlichkeit, die sich hinter tausenden, pastellfarbenen Duftmolekülen versteckt, gelacht und gesummt hatte. Helles, fast durchsichtig scheinendes Gelb und Orange. Limone, Orangenblüten und Zinnober. Eschenbach hatte keinen Dunst, wie Zinnober roch. Aber er stellte es sich vor, dass es so roch, wie Zinnoberrot aussah. Blasses Zinnoberrot. Transparent schimmernd, wie der Mantel untergehender Sonnen.
Plötzlich wusste er, was ihn in Eveline Marchands Wohnung die ganze Zeit so irritiert hatte. Es war dieselbe zitternde Leichtigkeit tanzender Duftmoleküle, die Doris Hottiger damals umgeben hatten, und an die er sich die ganze Zeit zu erinnern versuchte. Sie war da – nicht physisch vielleicht, aber in einem übertragenen Sinn war sie präsent. Etwas verband die beiden Frauen, und er war
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