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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Frauen in eleganten Deuxpièces stocherten in hochhackigen Schuhen über den Gehsteig und sprachen aufeinander ein, als ginge es um Leben und Tod.
    Die Stille im Inneren der Wohnung verlieh der Hektik eine pantomimische Schwermut. Die Bewegung erscheint langsamer ohne Lärm, dachte Eschenbach.
    »Was war der eigentliche Grund, weshalb Sie gingen?« Eschenbach durchbrach mit seiner Frage die Stille. »Der Auslöser … der Ruck, der einem alles leichter macht?«
    Sie dachte nach.
    »Es gibt Frauen, die bleiben bei ihren Männern, ungeachtet dessen …« Eschenbach wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte.
    »Einfach die Augen schließen und sich ein Collier von Cartier um den Hals hängen lassen, meinen Sie das?«
    »Nicht unbedingt. Ich frage mich einfach, ob da nicht etwas war, das Ihnen zu diesem endgültigen Entschluss den Mut gab.«
    »Sie wissen ja selbst, wozu er fähig war.« Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln.
    »Das wussten Sie auch. Längst bevor Sie sich entschlossen hatten, ihn zu verlassen.« Eschenbach erschrak; es fiel ihm auf, wie hart er plötzlich klang. »Was war, bevor Sie gingen, Frau Marchand?«
    »Das weiß ich nicht mehr.«
    »Sie lügen!« Eschenbach spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Eveline wich seinen Fragen zum wiederholten Mal aus. »Es macht keinen Sinn, verstehen Sie: Zuerst leben Sie mit einem Mann zusammen, den Sie nicht lieben – nie geliebt haben. Mehr noch, mit einem Mann, der Sie demütigt, und von dem sie erfahren haben, dass er ein Kinderficker ist.«
    Eveline Marchand zuckte zusammen.
    »Sie wussten, was für ein Mensch er war …« Der Kommissar versuchte, sich zu beruhigen und holte tief Luft. »Trotzdem sind Sie geblieben; haben nichts getan … Sie hätten viel Unheil verhindern können, verdammt noch mal!« Eschenbach hörte, dass er schon wieder schrie. »Jetzt ist er tot – und Sie kommen wie die alte Fasnacht hinterher, bröseln ein Vaterunser und meinen, damit ist die Sache gegessen …«
    Eveline sah ihn lange schweigend an, und der Kommissar wusste, dass er mit seinem Getöse das filigrane Vertrauen, das über die letzten Stunden zwischen Eveline und ihm herangewachsen war, wieder niedergerissen hatte. Er dachte an Kathrin; wie sie als kleines Mädchen mit offenen Armen jeden in ihr Herz schloss. Dieses gottgegebene Vertrauen, das nur Kinder haben und Schwachsinnige.
    Eschenbach war wütend auf sich selbst; darauf, dass er die Beherrschung verloren hatte. Was war es, das Eveline dazu bewogen hatte, doch zu gehen? Plötzlich, wie von der Tarantel gestochen. Ohne Widerrede. Still und definitiv. Was hatte den abrupten Schnitt im Leben dieser Frau ausgelöst? Er war so nahe dran gewesen, und jetzt hatte er es vermasselt, kurz bevor sich die Auster von selbst geöffnet hätte. Und ohne sie anzusehen, flüsternd, mit hängenden Schultern, fragte er noch einmal: »Die Wahrheit, Frau Marchand. Warum sind Sie gegangen?«
    Sie sah ihn flüchtig von der Seite an. »Es war, als hätte das Leben keinen Sinn mehr gehabt. Als hätte es mich weggesogen. Mich umbringen oder neu anfangen.« Wieder sah sie ihn an, und beide wussten, dass es nur Teilstücke eines verborgenen Ganzen waren.

22
    »Hottiger gibt Scharfschützenkurse fürs Militär.« Es war Claudio Jagmetti, der ihm diese Neuigkeit aufs Handy gesprochen hatte. Er klang müde und gereizt. Trotzdem hatte die Nachricht etwas Triumphales.
    Eschenbach hatte es sich in einem leeren Abteil bequem gemacht. Die letzten Stunden mit Eveline hingen wie Spinnennetze um seinen Kopf. Nichts Handfestes, nichts, das greifbar gewesen wäre. Kobler, mit ihrem Hang zu Anglizismen würde sagen: No hard facts , und träfe damit den Nagel auf den Kopf. Und trotzdem war etwas da. Irgendetwas irritierte ihn an dieser Frau. Was verschwieg sie ihm?
    Er biss in das Sandwich, das er am Gare de l’Est gekauft hatte. Baguette mit Weichkäse. Warum gab es das nur in Frankreich? Er fragte sich, warum er dazu eine Cola und keine Flasche Rotwein trank. Was um alles in der Welt war in ihn gefahren? Er wählte Jagmettis Nummer. Der junge Polizist meldete sich sofort.
    »Die Tochter oder der Vater?«, fragte Eschenbach, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Namen zu nennen. Seiner Theorie nach konnte es nur der Vater sein, aber aufgrund der Mitteilung, die Jagmetti hinterlassen hatte, fand er, dass seine Frage berechtigt war.
    »Der Vater«, kam es prompt.
    Eschenbach grunzte.
    »Entschuldigen Sie, wenn das nicht klar war. Oberst Ernst

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