Im Sommer sterben (German Edition)
liebevoll, und obwohl ich schon auf die dreißig zuging, tönte Kindchen keineswegs verniedlichend. Sie meinte es ernst. Ich muss sie irgendwie komisch angesehen haben, denn sie fügte noch hinzu: Ich weiß, du bist eine junge Frau, und die tun sowieso, was sie wollen . Dann mussten wir beide lachen.«
»Erstaunlich«, meinte Eschenbach und nahm das letzte Croissant.
»Das fand ich auch. Sie hat nie viel über die Vergangenheit gesprochen. Ich denke, sie hat das meiste mit ins Grab genommen.«
»Wann ist sie gestorben?«
»Vor etwa zwölf Jahren. Eines Morgens fand man sie tot in ihrem Pavillon im Garten der Villa.«
»Und wie stand sie zu ihren Söhnen?«
»Sehr gut. Sie liebte sie, wenn auch auf unterschiedliche Weise.«
»Wie meinen Sie das?«
»Johannes war stark und dominant. An ihn lehnte sie sich an, holte Rat und besprach Probleme und Sorgen. Er fand für alles eine Lösung.«
»Ersatz für den gefallenen Mann?«
»Ja, vielleicht. In gewisser Weise schon, denke ich.«
»Und Philipp?«
»Ihn liebte sie … ach, was weiß ich. Mütter lieben ihre Kinder eben. Er war von den Brüdern klar der Schwächere. Und trotzdem; er war ihr Lieblingssohn. Immer gut gelaunt, unterhaltsam und geistreich.« Eveline Marchand sprach ohne die geringste Emotion. Es klang wie Börsenkurse aus den Wirtschaftsnachrichten. Als schlüge sie das Telefonbuch auf und läse irgendwelche Namen vor, die ihr nichts bedeuteten. »Wäre da nur nicht seine dunkle Seite – die Leere, diese unbeschreibliche Kälte gewesen.« Sie umfasste mit beiden Händen ihren nackten Fuß, den sie wieder zu sich auf die Couch gezogen hatte und starrte auf die leere Kaffeekanne.
»Wann haben Sie das entdeckt?«
»Ach wissen Sie, Herr Kommissar, ich bin geradeaus auf die Verpackung los. Der Inhalt würde schon kommen, dachte ich mir.« Sie lächelte. »Naiv, nicht? Vielleicht ist der Inhalt gar nicht so wichtig, wenn man jung ist. Reich und gut aussehend. Schnelle Autos und ein Perlencollier auf der Tribüne in Ascot.« Es waren wieder Namen aus dem Telefonbuch. »Alles in allem kein schlechtes Packpapier, fand ich.«
Eschenbach nickte.
»Nach den ersten Wochen schon merkte ich, dass es nicht die große Liebe war. Vielleicht nicht einmal die kleine. Tanzbars, Sex und Kerzenlicht. So habe ich eine ganze Weile in den Tag und in die Nacht hinein gelebt. In der Galerie lief es, die Leute kauften und der Rubel rollte.«
»Und die Heirat?«, wollte Eschenbach wissen.
»Ach, die Heirat. Die kam so, wie sie fast überall kommt; nur schneller. Zuerst der Kontakt zur Familie; die Fremdheit, die einem vertraut wurde, romantische Abende zu zweit, und dann der Antrag, der keine Widerrede zuließ.«
»Warum nicht?«
»Weil vorher schon alles klar war. Es gibt Dinge im Leben, da kommt die Antwort vor der Frage.«
Eschenbach sagte nichts. Er wusste, dass es bei Milena – seiner ersten Frau – und ihm nicht anders gewesen war.
»Nach der Heirat war nichts mehr wie vorher. Statt Blumen gab es Streit, statt Kerzenlicht regelmäßig Ohrfeigen. Nächtelang blieb er weg. Er gab sich nicht einmal die Mühe, es zu verschweigen, dass er mit anderen schlief. Er brüstete sich damit und genoss es, mich zu demütigen.« Sie setzte den Fuß wieder auf den Boden, hob beide Schultern an, und als ob sie Eschenbachs Gedanken lesen konnte, fügte sie hinzu: »Ich weiß bis heute nicht, warum ich damals nicht einfach meine Sachen gepackt habe und gegangen bin.«
»Und Johannes, ich meine sein Bruder? Hat er nichts dagegen unternommen?«
»O doch. Aber es brachte nichts, und irgendwie wussten es alle, dass es hoffnungslos war. Er tröstete mich, hörte mir zu. Er war wie ein Fels in dem ganzen Chaos …«, sie schien über den Vergleich nachzudenken. »Stand einfach da, hörte zu … aber geändert hat es nichts. Und trotzdem …« Sie stockte, stand auf und ging zum Fenster.
»Und trotzdem sagte er Ihnen nicht, was wirklich los war?« Eveline nickte zuerst, dann schüttelte sie den Kopf. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und blickte wortlos auf die Straße hinunter.
Auch Eschenbach stand auf und stellte sich neben sie. Die schallisolierten Fenster ließen das Treiben auf der Straße wie einen Stummfilm erscheinen. Das Kommen und Gehen zur Mittagszeit. Sandwiches, die im Gehen gegessen oder in kleinen Tüten zurück an den Arbeitsplatz getragen wurden. Gruppen von Frauen und Männern zogen in ihren dunklen Businessuniformen vorbei an schlendernden Touristen. Zwei
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