Im Sommer sterben (German Edition)
sicher, dass es nicht nur das Parfüm war.
Der Schaffner, der von ihm das Billett forderte, wirkte kränklich und bleich. Seine weißen, knorrigen Finger blätterten lethargisch durch die Fahrscheine, es dauerte eine geraume Zeit, bis er mit einer schäbigen Blechzange am richtigen Ort den richtigen Knips anbrachte. Sein strähniges Haar fiel ihm immer wieder ins Gesicht und verdeckte seinen Blick, der mehr nach innen als nach außen gerichtet aus freudlosen grau-blauen Augen kam. Das Weiße seiner Augen war gelb. Es war nicht das Pastellgelb der Duftmoleküle, sondern ein trauriges, schmutziges Gelb, übersät mit kleinen, roten Äderchen. Alkohol und Drogen. Und höchstwahrscheinlich eine Hepatitis, die längst hätte behandelt werden müssen, dachte Eschenbach. Vor ein paar Jahren noch hätte Eschenbach vielleicht via Telefon angeordnet, dass man den Schaffner am Schweizer Zoll auseinander nahm. Er wettete seinen Bauch darauf, dass der Typ ein paar Päckchen Heroin, Crack oder sonst was bei sich hatte. Meist schoben sie sich das Zeug, in Kondomen verpackt, in den eigenen Darm. Diesmal machte es Eschenbach nur traurig, und er ließ den Anruf bleiben.
Etwas später öffnete eine kleine, ältere Dame mit altmodischem Kleid und kleinem Handgepäck die Abteiltür. Sie warf einen missbilligenden Blick auf Eschenbachs Füße, die auf der gegenüberliegenden Sitzbank lagen. Mit einem verlegenen Lächeln nahm der Kommissar die Beine vom Polster, setzte sich aufrecht hin und suchte seine Schuhe. Er fand nur die Cola-Dose. Er drückte sie in den Abfallbehälter unter dem Fenstertisch, grummelte ein excusez-moi und bot der Dame einen Platz an. Sie hustete, und Eschenbach hörte gerade noch ein gemurmeltes »mais c’est incroyable«, bevor sie die Tür mit einem energischen Ruck von außen wieder zuzog.
»Recht hat sie«, sagte er, stand auf und zog das Fenster hinunter bis zum Anschlag.
Ein lauer Nachtwind drang ins Abteil. Er stützte sich mit beiden Armen auf den Fensterrand und blickte nach draußen. Schwarze Hügelketten und Bäume zogen ratternd an ihm vorbei. Hier und da sah er Lichter von Häusern oder ein einsames Auto, das sich auf unbeleuchteter Landstraße den Weg suchte. Er blieb noch eine ganze Weile regungslos so stehen.
23
Nach der langen Zugfahrt, die er über große Strecken vor sich hin dösend verbracht hatte, konnte er nur schlecht schlafen. Mehrmals in der Nacht stand er auf, nahm sich ein Glas Wasser und setzte sich in den Lehnstuhl auf der kleinen, offenen Veranda. Der nächtliche Himmel über ihm war klar, und es war ihm, als blicke er in das Lichtermeer einer weit entfernten Stadt. Immer mehr kleine, zwinkernde Funken entdeckte er. Lichter eines einzigen Sonnensystems. Und es wurde ihm leicht schwindlig, als er daran dachte, dass es noch weitere Sonnensysteme gab.
Er sinnierte über den Fall Bettlach, und irgendwie kam er nicht von dem Gedanken los, dass sein Fall nur ein kleines Sandkorn war, das sich in einem Meer von Sandkörnern langsam zu verlieren drohte.
Er vermisste Corina und Kathrin, und plötzlich kam ihm in den Sinn, dass er seit Tagen vergessen hatte, den Pflanzen Wasser zu geben. Er stand auf, spürte die Wärme der Steinplatten unter seinen nackten Füßen und begutachtete das welke Basilikum, das in einem kleinen Topf neben dem Holztisch stand. Von der Küche aus zog er den Gartenschlauch hinaus und sprengte die Tontöpfe, Setzlinge und Blumentröge, die einen großen Teil der Terrasse für sich beanspruchten. Schließlich konnte er nicht widerstehen, seinen Kopf auch unter den kühlen Wasserstrahl zu halten. Das Wasser lief an ihm hinunter, und das T-Shirt klebte an seinem Bauch wie ein nasses Segel.
Der Kommissar war am nächsten Morgen als Erster im Büro, was selten vorkam. Es würde ein sehr heißer Tag werden, und denken konnte er nur vernünftig, wenn es kühl war. Vor ihm auf dem Tisch lag aufgeschlagen das Zürcher Tagblatt . Mehrere Ringe aus eingetrocknetem Kaffee zierten die Frontseite des Inlandteils; darüber stand in fettem Schwarz: Ist der Golfplatzmörder ein Schweizer Offizier? Eschenbach kaute auf einer halb gerauchten Brissago herum und fluchte ununterbrochen. Diese blöde Kuh; von wem hatte sie nur diese Informationen?
Er wusste, dass er sich das selbst eingebrockt und Marianne Felber unterschätzt hatte. Vor seiner Abreise wollte er sie noch anrufen, dann hatte er es vergessen; sein Versprechen gebrochen. Jetzt hatte sie es ihm heimgezahlt: eine ganze,
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