Im Sommer sterben (German Edition)
Frau Mazzoleni sah über den Rand ihrer Brille und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, obwohl sie gar nicht schwitzte. »Ausverkauft, die Dinger … restlos ausverkauft. Den hier hatte die Kassiererin für sich; sie war so freundlich und hat ihn mir weiterverkauft.«
»Zu einem überteuerten Preis, nehme ich an«, sagte Eschenbach und grinste. »Jetzt müsste man Heizlüfter kaufen, mit Preisnachlass!«
Eschenbach arbeitete bis tief in die Nacht hinein. Er hatte sich zum zweiten Mal den Bericht von Lenz vorgenommen. Diesmal nicht nach der Gliederung, wie sie Lenz angedacht hatte, sondern chronologisch. Das Leben ließ sich nicht beliebig ordnen; es war ein zusammenhängendes Kunstwerk. Wenn man ein Bild begreifen wollte, dann nützte es nichts, wenn man es nach Farben ordnete. Es verlöre nicht nur seine Vollkommenheit, sondern auch seinen Sinn.
Jede der dreihundert Seiten las er sorgfältig. Er nahm sie aus dem Ordner heraus, suchte ihren wirklichen Platz im Leben von Ernst Hottiger, und gliederte sie neu. Die Erinnerung ist eine unauslöschbare Komponente in der Art und Weise, wie wir urteilen und handeln. Die Rätsel von heute erklären sich zu einem großen Teil durch das Gestern, dachte er.
Das Geheimnis der Biographie Ernst Hottigers lag in dessen Kindheit. Es war eines jener tragischen Ereignisse, die ein Leben bestimmten wie Weichen die Richtung von Zügen.
Ernst war ein unauffälliger Junge, bis zu dem Zeitpunkt, als sich seine Eltern trennten. Ilse Hottiger, die sehr jung Mutter geworden war, emigrierte drei Jahre nach Kriegsende mit einem jungen Künstler nach Kanada. Der Vater, dem das Sorgerecht für den Jungen zugesprochen wurde, hatte fortan wenig Glück. Er litt darunter, dass seine Frau ihn verlassen hatte, und ertränkte seine Schmach im Alkohol. Es folgten der wirtschaftliche Ruin seiner Sattlerei und schließlich die Entziehung des Jungen durch die Vormundschaftsbehörde.
Ernst Hottiger war zehn Jahre alt, als man ihn in ein Heim für Waisen steckte. Das Leben ist ein zynischer Hund, fand Eschenbach.
Ein knappes Jahr später brachte sich der Vater um. Band sich mit den Schnürsenkeln seiner alten Armeeschuhe einen Sack Steine um den Hals und sprang in die Limmat. Dem Jungen sagte man nichts. Für ihn galt er als vermisst. Erst als Hottiger fünfzehn Jahre später selbst begann, Nachforschungen anzustellen, fand er es heraus.
Schon früh übten Waffen eine besondere Faszination auf den jungen Hottiger aus. Stundenlang zielte er mit einer selbst gebastelten Steinschleuder auf Einmachgläser, die er heimlich aus der Küche entwendet hatte. Aus Haselruten und ein paar alten Brettern wurde ein Pfeilbogen oder eine Armbrust gezimmert; immer ging es ihm ums Schießen – und immer auch ums Treffen.
Damit sein Interesse in kontrollierte Bahnen geriet, ermöglichte ihm die Heimleitung, an Jungschützenkursen und später am Knabenschießen teilzunehmen. Er belegte zweite und dritte Plätze, gewann aber nie. Zu seinem vierzehnten Geburtstag bekam er ein gebrauchtes Luftgewehr. Eine Stiftung zur Förderung talentierter Waisenkinder kam für die Kosten auf. Es wurde seine Leidenschaft. Zwei Jahre später wurde er in die schweizerische Talentförderung aufgenommen, mit achtzehn war er Mitglied des Schweizer Nationalkaders der Luftgewehrschützen. Er rechtfertigte das Vertrauen, das man in ihn setzte: ein Jahr später, mit Bronze und Gold bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom. Mit Kleinkaliberbüchse und Großgewehr. Liegend.
Es folgte eine lange Militärkarriere. Festungstruppen, das Kommando einer Übermittlungskompanie, Scharfschützenkurse und schlussendlich die Ausbildung zum Generalstabsoffizier. Erste Kontakte zu Johannes Bettlach; Kontakte, aus denen langsam eine Freundschaft heranwuchs. Ende der siebziger Jahre half ihm Bettlach, eine eigene Sicherheitsfirma zu gründen.
Das Beziehungsnetz, das er während seiner Militärzeit sorgsam aufgebaut hatte, reichte bis in die obersten Ränge von Politik und Wirtschaft. Es folgten unternehmerischer Erfolg und Reichtum. Und doch tauchte er kaum irgendwo auf. Weder in den Medien noch in der Öffentlichkeit – von den Partys der Schweizer Halbprominenz ganz zu schweigen. Nicht den leisesten Hauch eines Skandals fand Eschenbach, und was ihm besonders auffiel: auch keine Frauen.
Bis 1981 diese Eva Matter auftauchte, die, wie sie herausgefunden hatten, Eveline Marchand, verheiratete Bettlach war. Dann die Heirat mit ihr, die kurz
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