Im Sommer sterben (German Edition)
Mauer entlang, und bemerkte, dass die Tür Teil eines größeren Tors war. Der Kommissar vermutete ein Garagentor und ging weiter, bis ans Ende der Mauer. Jetzt sah er, dass er richtig lag. Eine riesige, gegen beide Seiten offene Garage verbarg sich dahinter. Er zählte vier Wagen, wo Platz für weitere zehn war, und weiter hinten erblickte er das Haupthaus; ein weißer kubischer Block. Die Form des Gebäudes erinnerte ihn an den Bauhausstil der zwanziger Jahre. Der Eingang war schlicht, fast lieblos. Als Eschenbach dort angekommen war, drückte er den Knopf der Gegensprechanlage und wartete. Er drückte ein zweites und nach ein paar Minuten noch ein drittes Mal, ehe er an die Tür klopfte und rief.
Zehn Minuten waren vergangen, und noch immer regte sich nichts. Der Kommissar überlegte, ob er Verstärkung anfordern sollte. Sein Mobiltelefon lag im Auto, seine Waffe noch immer beim Büchsenmacher. Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte. Er drückte die Türklinke und bemerkte, dass die Tür nicht verschlossen war. Ohne Zögern trat er ein. Überall dunkler Steinboden und in der Mitte eine ausladende Treppe, die nach oben führte. Ein riesiger Wohnraum, mit einer eindrucksvollen Glasfront zum See hinaus.
»Kommen Sie endlich!« Eine harte Stimme zerriss die Stille. »Ich bin oben, gleich rechts, in der Bibliothek.«
Eschenbach stieg die Stufen hinauf und trat in das abgedunkelte Zimmer. Er erkannte Hottiger, der auf einem dunkelgrünen Ledersessel saß und die Beine ausgestreckt hielt.
»Hier bin ich, verdammt noch mal! Sie kommen zu spät.« Sein schmaler Mund bewegte sich kaum hinter seinem grauen Bart.
»Sie machen es mir nicht gerade einfach, ich war pünktlich um neun hier. Was soll das Versteckspiel?«
»Sie sind zu spät, Herr Kommissar … Wir sind beide zu spät, glauben Sie mir. Das Leben nimmt keine Rücksicht auf die, die zu spät kommen.«
Erst jetzt sah Eschenbach, dass Hottiger eine Pistole in der Hand hielt.
»Geben Sie auf, Hottiger. Meine Leute wissen, wo ich bin.« Eschenbach blieb ruhig, stand da und wartete.
Hottiger lachte. Es war ein heiseres, mutloses Lachen. »Sie glauben doch nicht im Ernst, ich würde Sie abknallen. Den einzigen Polizisten, dem ich zugetraut hatte, dass er endlich aufräumt mit diesem Gesindel.« Hottiger schob mit einem kräftigen Fußtritt den Hocker, auf dem er seine Beine hatte, in Richtung des Kommissars. »Hier, setzen Sie sich.«
Eschenbach blieb lieber stehen.
Hottiger nahm die Pistole von der rechten in die linke Hand. Dann wieder zurück in die rechte. Es sah aus, als prüfe er, in welcher Hand sie besser läge. »Ich habe mein ganzes Leben geschossen. Auf Scheiben, Tontauben, Büchsen, Flaschen und später … im Militär auch auf Menschen. Mit Übungsmunition … zu Übungszwecken. Ich habe alles getroffen, immer, verstehen Sie? In der Mitte getroffen, dort wo es die fetten Punkte gibt …« Er hielt inne.
»Und jetzt?« Eschenbach sah auf die Pistole, die wieder die Hand gewechselt hatte.
»Einen Moment lang habe ich mir überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn ich mich selbst erschieße …« Er lachte. »Aber ich glaube, ich kann’s nicht. Für einen Schützen ist es schwierig, wenn er das Ziel nicht vor Augen hat.« Er sah Eschenbach an. »Könnten Sie’s? Ich meine, könnten Sie sich einfach wegknallen?«
»Ich habe mir das noch nie wirklich überlegt … Ich weiß es nicht«, sagte Eschenbach.
»Ich dachte immer, es wäre nicht schwer. Wenigstens nicht für mich.«
Eschenbach hörte schweres Atmen.
»Es ist vielmehr …« Hottiger schwieg einen Moment, sah seine Hand an, das schwarze Metall, das darin glänzte. »Es sind die verdammten Fragen, die mich nachts nicht schlafen lassen. Sie kommen wie schwarze Schatten. Fragezeichen, große fragende Fratzen. Schattenmonster … sie laufen mir nach. Haben Sie das auch, manchmal?«
Eschenbach stand nur da und wartete.
»Warum lief meine Mutter davon wie eine Henne nach dem Eierlegen? Und was für ein Vater ist das, der sich selbst ersäuft? Im Alkohol und dann wie ein hilfloser Lurch in der Limmat. Warum, verdammt noch mal, lässt sich ein Vater so gehen?«
Eschenbach war, als vergingen Stunden, bis er weitersprach.
»Was ist schon Liebeskummer und wirtschaftlicher Ruin gegen … gegen die Einsamkeit der Heimatlosen? Wir hätten auswandern und neu anfangen können. Neu anfangen kann man immer.« Hottiger stand auf, sicherte die Waffe und schob sie in das Lederholster unter seinem
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