Im Sommer sterben (German Edition)
Anfang. Ein erhabenes Schreiten, ein Gang, wie ihn nur Könige hatten. Könige und Schweizer Berge vielleicht. Müsste das Finsterahorn oder der Eiger eines Tages gehen, sie würden in diesem Rhythmus davonmarschieren. Erhaben und stolz, die Jungfrau und den Mönch links liegen lassend.
Aber war er deshalb ein Patriot? Weil er die Berge liebte, Soldaten ausbildete und für die Schweiz Olympisches Gold holte? Wäre er nicht viel lieber nur ein fürsorglicher Vater gewesen? Ohne Heldentaten und Pulverdampf. Einfach nur Vater? Aus Italien, Portugal, Kroatien oder sonst woher? Spielte die Nationalität eine Rolle bei den wichtigen Dingen im Leben? Es war immer noch windstill, und er überlegte sich, ob für ein Bad im See noch Zeit blieb.
Diesen Zürcher Kommissar dürfe man nicht unterschätzen, hatte man ihm gesagt. Nicht spektakulär, aber beharrlich – etwas verschroben und intelligent sei er, und unberechenbar. Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, über sein graues Barthaar und hörte ein Geräusch, wie wenn ein Fisch nach Luft schnappte. Die Ringe auf dem Wasser wurden größer, ebbten ab und verschwanden wieder. War es vielleicht ein Hecht gewesen, oder doch nur ein flacher Zander?
Er stand auf und ging den Kiesweg zurück ins Haus.
Er wusste nicht, warum er sich für die Beretta entschied. Er hätte auch die SIG aus dem Waffenschrank nehmen können oder die alte Parabellum, Kaliber 7.65, die er so liebte. Beide hatte er während seiner aktiven Dienstzeit getragen. Vielleicht war es das, was ihn störte und weshalb er die Beretta nahm.
Er prüfte das Magazin und machte ein paar Manipulationen an der Waffe. Sie war zweifellos gut in Schuss. Er war zufrieden. Früher hatte er sie alle noch selbst gepflegt, gereinigt und geölt. Mit der Zeit waren es zu viele geworden. Doch Magdalena Rüdisühli, seine Haushälterin, weigerte sich hartnäckig, diese Aufgabe zu übernehmen. Nicht einmal vom Staub auf den Vitrinen und Gestellen wollte sie etwas wissen.
Es waren ein paar pensionierte Freunde aus seiner aktiven Schützenzeit, die sich um seine Sammlung kümmerten. Männer aus altem Schrot und Korn, die es zu Hause nicht aushielten und die über Pistolen und Gewehre mehr wussten als über ihre Frauen. Hottiger lächelte.
Eschenbach war spät dran. Er hatte um sieben noch eine Unterredung mit Bernhard Rytz, dem Dienstchef für Vorermittlungen, und wollte wissen, wie es um die Akte Genesis stand. Kobler hatte darauf bestanden, dass er die Akte an Rytz abgab, damit er sich voll auf den Fall Bettlach konzentrieren konnte. Er hatte kein gutes Gefühl dabei gehabt.
Die Sitzung war wenig erfreulich verlaufen. Es gehe ihm viel zu langsam voran, hatte Eschenbach gedonnert. Überhaupt fehle nur noch, dass die Presse davon erführe, und dann verschwänden sie alle im Nirwana: die Verdächtigen, die Beweise und auch Rytz, wenn er sich nicht endlich darum kümmere.
Eschenbach nahm die Ausfahrt Richtung Einsiedeln, mäanderte entlang der Landstraße, die in weit gezogenen Kurven bis hoch zum Sihlsee führte. Auf der Gegenseite staute sich der Verkehr. Ein Bauer holperte gemächlich mit einer gewaltigen Ladung Heu talwärts.
Es war kurz vor neun, als er rechts abbog und nach ein paar Kurven die Halbinsel erreichte, auf der das Anwesen von Ernst Hottiger lag. Eine große Tafel wies darauf hin, dass es sich um Privatgrund handelte, an zwei Stellen entdeckte er Überwachungskameras. Ansonsten gab es weder Schranken noch Zäune. Auch Stacheldraht sah er keinen.
Die Zufahrt zum Haus war schmal und von Bäumen gesäumt. Kein Eingang im üblichen Sinne, wie man es bei Häusern dieser Größe hätte erwarten können. Keine Treppe, die nach oben führte, und kein überdachtes Entree. Was Eschenbach vom Haus sah, war eine weiße Mauer. Breit und hoch. Sonst nichts. Sie schützte das eigentliche Anwesen, das er hinter der Mauer auslaufend zum See hin vermutete.
Er parkte seinen Volvo, stieg aus und ging langsam auf die Mauer zu. Eine Überwachungskamera schwenkte zu ihm hin und brummte leise zur Begrüßung. Eschenbach blieb stehen und blickte freundlich ins Glasauge des stählernen Wächters. Es geschah nichts. Einen Moment lang wartete er noch, dann sah er auf seine Armbanduhr; es war kurz nach neun. Erst jetzt bemerkte er die eingelassene Tür. Er zog den Metallring aus seiner Vertiefung, drehte und drückte. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Er hielt inne, wieder rührte sich nichts. Dann ging er nach links, an der
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