Im Sommer sterben (German Edition)
darauf folgende Geburt von Doris und der eilig fingierte Abgang von Eva Matter.
Dieser Teil las sich wie ein Bühnenstück. Und je länger Eschenbach darüber brütete, umso klarer sah er, dass es auch eines war. Wie sonst käme eine Hebamme dazu, den beiden frisch Verheirateten jegliche Liebesbeziehung abzusprechen? So gut es inszeniert und so stimmig das Bühnenbild auch war, sie hatten es schlecht gespielt. Sie hatten bei der Liebesszene gepfuscht, und zwar gehörig. Es fiel auf, wenn man dort pfuschte, wo die Zuschauer nicht zusehen, sondern mitfühlen wollen.
Die Frau passte nicht in Hottigers Leben. Sie war ein Fremdkörper. Hottiger hatte kein Verhältnis zu Frauen, und wenn, dann ein gestörtes. Da war sich Eschenbach sicher. Die Mutter, die sich früh aus der Pflicht geschlichen und Vater und Sohn sich selbst überlassen hatte. Wen würde es wundern? Und dass sich im langen Leben eines erfolgreichen Mannes außer der Mutter, ein paar Sekretärinnen und Haushälterinnen, und einer einzigen Eva Matter nichts an Frauen finden ließ, war mehr als ein Indiz dafür.
Weshalb also die Liaison, die keine war? Die plötzliche Heirat? Wegen des Kindes? Sicher, Hottiger war loyal und hatte ein schon fast überzeichnetes Verantwortungsbewusstsein. So viel ging aus seiner Biographie hervor. Zweifellos hätte er zu Frau und Kind gestanden. Selbst wenn es nur ein einziger »Fehltritt« gewesen wäre. Aber an eine Amour fou, an eine kurze, heftige Romanze mochte er nicht glauben. Zu klar und glaubhaft waren die Äußerungen der Hebamme gewesen. Doris Hottiger war nicht seine Tochter, und er nicht der Geliebte der Mutter. Das Ganze war nur ein Schattenspiel. Ein Auftrag oder gewissermaßen ein Freundschaftsdienst. Wer aber war der Auftraggeber?
Fieberhaft ging Eschenbach ein weiteres Mal durch den Bericht. Diesmal machte er sich an die Rekonstruktion des Beziehungsnetzes von Ernst Hottiger. Jugend- und Sportfreunde. Seine Förderer und Begleiter, der ganze Militärfilz, die Verwaltungsräte seiner Firmen und die Auftraggeber, die Lenz herausgefunden und mit Fragezeichen versehen hatte. Er schrieb die Namen auf ein weißes Blatt Papier, verband sie mit Strichen und Pfeilen und färbte sie ein: Rot für Freundschaft, Grün sinnigerweise fürs Militär. Blau stand für wirtschaftliche und Schwarz für politische Verbindungen. Es wurde ein hübsches Bild, fand er. Und mittendrin in diesem Netz von Verflechtungen standen die beiden Namen, an denen alles hing: Ernst Hottiger und Johannes Bettlach.
Der nächtliche Straßenlärm drang auf einer Wolke von Rauch und Lampenschein durch das offene Fenster in sein Büro, und in der Ferne hörte er eine Kirchenuhr, die viertelstundenweise die Zeit abarbeitete. Aus seiner Müdigkeit war Erschöpfung geworden. Er kannte das Gefühl, wenn die Schwere des eigenen Körpers ihn zu erdrücken drohte. Es war der Moment, wenn nach einem langen, hart geführten Verhör die Wahrheit herausbrach wie ein Kristall aus einem verwahrlosten Steinbruch. Doch wen hatte er verhört? Sich selbst? Und wo lag die Wahrheit? Er blickte auf die Skizze vor sich. Die Namen und Striche flossen ineinander wie die Formen eines Kaleidoskops.
Er blinzelte, rieb sich die geröteten Augen und zündete den letzten Zigarillo an. Dann nahm er einen schwarzen Filzstift aus seiner Schublade und kreiste die beiden Namen ein, die vor ihm zu verschwimmen drohten. Zwei dicke, schwarze Kreise.
32
Der See spiegelte das einfallende Morgenlicht zurück in den wolkenlosen Himmel. Ernst Hottiger schloss die Tür zu seinem Bootshaus auf, ging gemächlich ein paar Schritte am Ufer entlang und setzte sich auf eine Steinbank am Wasser. Er liebte die frühen Stunden, wenn der See unbewegt und flach war und wie schweres Quecksilber glänzte. Der Kommissar hatte sich für neun Uhr angemeldet. Er hatte noch gute zwei Stunden Zeit. So viel würde er nicht brauchen, dachte er.
Es war windstill an diesem Morgen. Die Schweizer Fahne hing regungslos am Mast, sodass man das weiße Kreuz nicht sehen konnte. Wie ein blutiges Tuch klebte sie am weiß getünchten Holz.
Es war der Tag vor dem Schweizer Nationalfeiertag. Bald würde man wieder die Feuerwerkskörper krachen hören, dachte Hottiger und überlegte sich, ob er ein Patriot war. Er erinnerte sich, wie er damals in Rom zuoberst auf dem Podest stand – wie die Nationalhymne schmetterte und die Fahne über ihm wehte. Er kannte jedes Wort dieser Hymne, jeden Ton. Der langsame, rhythmische
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