Im Stein
mir seit Tagen, seitdem ich mich vorbereitet habe auf meine Rede hier, dass mir da ganz schön die Muffe ging, so wie wir das in meiner Stadt nennen, denn ich hab das noch nie gemacht vor so vielen Kolleginnen: Ich freue mich sehr auf die Kolleginnen, die jetzt gleich nach mir sprechen. Auf die Kollegin aus Griechenland, wo eine Sexarbeiterin die Lizenz verliert, wenn sie heiratet, so habe ich das zumindest in unserer Broschüre gelesen, ja verdammt nochmal, wo gibt’s denn sowas, und ich freue mich auf die Kollegin aus England, die uns von den »antisozialen Verhaltensregeln« berichten wird, mit denen sie verfolgt und eingeschränkt wird, und auch auf die Kollegin aus Frankreich, wo ihr immer noch Freiheitsstrafen drohen. Wir sind hier richtig international, und ich glaube, dass wir da alle zusammenfinden müssen, wenn wir schon immer von Europa reden. Ich kann hier nur von unserer Situation in Deutschland reden und wie ich sie wahrnehme. Und was wir da verbessern müssen.
Wir brauchen auf jeden Fall einen Erlass von Durchführungsrichtlinien zum Prostitutionsgesetz. Wie sichern wir unsere Renten ab? Wir denken doch alle darüber nach. Und wie können wir sichergehen, dass wir nicht in einen Topf mit den Frauen geworfen werden, denen man Unrecht tut. Ich weiß, dass der Zwang ein großes Thema ist, in der Politik, in den Medien, in der Gesellschaft. Und ich weiß, und wir alle wissen, dass es so etwas gibt. Zwangsprostitution ist ein Verbrechen. Aber ich wünsche mir, dass man das nicht alles über einen Kamm schert. Ich wünsche mir eine Gewerkschaft. Ich wünsche mir, dass die Hydra weiterhin so unabhängig arbeitet. Ich wünsche mir, dass wir unseren Dialog fortsetzen, untereinander. Ich wünsche mir, dass wir uns weiterhin regelmäßig treffen, auf Kongressen, in Diskussionsrunden, auf Demonstrationen. Und es gibt noch vieles, was ich mir sonst noch so wünsche.
Aber erstmal euch allen und uns allen einen schönen und ergiebigen Kongress, dass es Ergebnisse gibt, dass wir weiterkommen. Vielen Dank.
(Tag 1, 18. März 2005)
Lichter in der Kathedrale
Die Musik ist hier unten kaum zu hören. Wie ein leises Grollen hinter den Wänden, über den Mauern.
Manchmal denkt er, er kennt die Zeiten, in denen die Züge über die nahe Strecke rumpeln. Aber vor allem in den Nächten scheint es keine Regelmäßigkeiten zu geben. Er sitzt oben im Büro und lauscht. Dreiundzwanzig Uhr dreißig, ein Uhr vierzig, stundenlang nichts, und am nächsten Tag vollkommen anders. Der Bahndamm führt ums Viertel, die Güterstrecke verläuft unterhalb der Häuser, unterhalb der Straßen, jetzt im Herbst liegt häufig Nebel über den Gleisen, sammelt sich in dieser Schneise, in den feuchten kühlen Nächten. Büsche wachsen dort, die alten Nebengleise, die in die Fabriken führten, enden auf Brachflächen, Hinterhöfen, verschwinden im Erdreich, hölzerne morsche Schwellen. Und in den Sommern windet sich der Stahl in der Hitze, liegt ein Flimmern über dem alten Güterring, als wäre alles schon asphaltiert. Er hat gehört, dass sie diese Strecke in den nächsten Jahren stilllegen wollen. Das alte Galvanowerk verschwand schon Anfang der Neunziger. Nur das Haus der Verwaltung blieb stehen, ein Wessi kaufte es billig, Treuhandklüngel, richtete einen Club drin ein, verkaufte es wieder. Vor fast zwanzig Jahren.
Wo kam der her? Und wie hieß der nochmal? Hagen? Siegen? Hildesheim? Städte, durch die er vor wenigen Jahren erst gefahren ist. Hässliche Platten, flache Zentren, schmutzige Straßen, Bahnhöfe wie dunkle Höhlen, stinkende Tunnel zwischen den Gleisen, wie vor dreißig Jahren in Bitterfeld oder Frankfurt/Oder, das langgezogene Leuchten der Spielotheken, Dönerläden, Spätverkäufe, Puffs, das er aus seinem Auto sah, das er manchmal aus den Zugfenstern sah, er wollte das Land kennenlernen, nahm sich frei, der Club lief auch einige Tage ohne ihn, Urlaub würde er das nicht nennen, Dortmund, er wollte einmal im Westfalenstadion stehen und stand dann auch, fühlte sich fremd unter und zwischen den siebzig-, achtzigtausend, an das Spiel kann er sich nicht mehr erinnern, Hagen W. aus Hagen?, Siegfried Augentaler?, er könnte in seinen Unterlagen nachschauen, Kopien liegen im Tresor, dort steht auch noch eine Flasche »Springer Urvater«, die ihm der Vorbesitzer damals hinterlassen hat. Drei viertel voll. Er hat sich in all den Jahren vorgenommen, sie zu einem besonderen Anlass zu trinken. Dann vergaß er sie wieder. Er fand auch
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