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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Weil wir einfach nur tanzten. »Sag beim Abschied leise Servus …«
    Und da ließen wir uns los. »… denn diese Worte tun nur weh …«
    So male ich mir das aus in Gedanken, wo ich so auf den Hafen schaue. Nach dem missglückten Spagat haben wir uns verabschiedet. Das war sehr nah, auch ohne Walzer, auch ohne kitschiges Servus.
    Es klingelt. Ich stehe auf. Ich bin da.

In der Stahlstadt
    Es schneite wieder. Hans blickte aus dem Fenster auf die flachen, viergeschossigen Plattenbauten, die sich in einem langgezogenen Betonband hinterm Hotel erstreckten. Jenseits der Häuser konnte er die schneebedeckten Felder sehen, ein paar vereinzelte Gehöfte, und weiter hinten, im trüben Nachmittagsdunst und im Schneetreiben kaum zu erkennen, die Wälder, durch die er als Kind oft gelaufen ist.
    Er zog die Gardinen zu, suchte nach einer Minibar, fand aber keine. Nur eine Flasche Mineralwasser stand auf dem Tisch neben dem winzigen Fernseher.
    Er hängte seinen schwarzen Anzug in den Schrank. Er war froh, dass er seinen Führerschein vor anderthalb Wochen zurückbekommen hatte, der gute Anzug wäre in einer Reisetasche nur unnötig zerknittert. Wahrscheinlich hätte er sich ein Taxi genommen, auch wenn es mehr als zweihundert Kilometer waren. Er hatte im Internet geschaut, wie lange er mit dem Zug gebraucht hätte. Mehr als drei Stunden. Sein Vater hatte sein ganzes Leben lang kein Auto gehabt. War immer mit dem Fahrrad ins Werk gefahren und in den harten Wintern mit dem Bus. Oder er ist querdurch bis zur Brücke marschiert, über fremde Grundstücke, Wiesen, Bauland. Wenn sie mal nach Berlin fuhren oder zur Verwandtschaft an die Küste, haben sie den Zug genommen. Hans erinnerte sich an diese Zugfahrten vor Jahrzehnten, in einer anderen Welt, unter einem anderen Himmel. Wie sie zum Bahnhof liefen, alle schleppten sie Koffer, manchmal nahm der Vater den Bollerwagen mit und stellte ihn beim Bahnhofsverwalter unter, mit dem er in der Kneipe oft Skat spielte. Als Hans ganz klein war, durfte er oben auf dem Bollerwagen sitzen, die großen Koffer im Rücken.
    Er stellte die Flasche auf den Tisch und machte das Glas voll. Johnnie Black. Da schwor er seit fast zwanzig Jahren drauf. »Kann man trinken«, hatte der Graf immer gesagt, »kann man trinken.« Er konnte sich noch an seine erste Flasche erinnern, die er irgendwann Ende der Achtziger in Berlin getrunken hatte, ein paar Gläser zumindest, und wie er sich wunderte über das Etikett: »Schwarz? Aber der ist doch immer rot.«
    Er trank das Glas in einem Zug aus, goss etwas weniger nach, trank etwas langsamer. Er zog die Vorhänge wieder auseinander, öffnete das Fenster und zündete sich eine an. Seit fast einem Jahr versuchte er, das Rauchen aufzugeben. Aber er würde den Abend und den nächsten Tag nicht ohne durchstehen.
    Er stand am Fenster und rauchte, Nichtraucherzimmer, und stellte fest, dass er die Felder nicht sehen konnte hinter den flachen Plattenbauten, die nur wenige Meter vor ihm lagen, auf der anderen Seite der Straße. Aber er hatte doch vorhin auf die endlosen weißen Felder geblickt. Aber vielleicht war das während der Fahrt gewesen, die ihn an diesen verschneiten Ebenen vorbeigeführt hatte, der Scheibenwischer schabte über das Glas, im Radio sprachen sie leise, er mochte keine Musik im Auto und hörte meistens Deutschlandfunk, wo sie fast ununterbrochen redeten, oder es waren andere Erinnerungen an andere Blicke, wo auch der Fluss floss, kahle Bäume in langen Reihen, dort mussten früher Wege oder Straßen gewesen sein, das Schneetreiben wurde stärker, er spürte die kalte Luft, warf seine Kippe nach draußen und schloss das Fenster wieder.
    Er nahm seinen Mantel, band sich den Schal um, zog die Lederhandschuhe über, steckte die Mütze in die Manteltasche, trank das Glas aus und ging zur Tür.

    Schon von weitem sah er, dass die Straße vor ihm anstieg, über die erste Brücke führte, und da wusste er, dass er richtig war. Er hatte das Auto auf dem Hotelparkplatz stehengelassen. Er war froh, dass er den Führerschein endlich wiederhatte. Was für einen Stress hatte er in diesem halben Jahr gehabt. Hunderte Taxiquittungen hatte er bei seinem Steuerberater abgeliefert, weil er nicht immer jemanden fand, der ihn rumfuhr, sogar Mandy 2 hatte er eine Zeitlang eingespannt, aber das war ihm schon etwas peinlich gewesen, dann lieber der dicke Klaus, aber dann doch lieber Taxi.
    Sie hatten in der Altstadt gewohnt damals, die früher nur ein Dorf gewesen war,

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