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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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geweigert. Ich sterbe hier. Und mit meinem Geld . Er wusste nicht, dass er in der Grenzstadt flussaufwärts lag, im alten Bezirkskrankenhaus. Und dann wusste er es doch wieder. Bring mich nach Hause , Hans.

    Vor zwei Wochen konnte er nicht mehr mit ihm sprechen. Der Alte lag schmal wie ein Stück verwittertes Holz in seinem Bett und starb. Langsam.
    »Warum hast du mir nicht eher was gesagt, Hanna?«
    »Er will dich nicht sehen, Hans.«
    » Du willst nicht, habe ich recht?«
    »Du bist all die Jahre weg gewesen.«
    »Ja, das bin ich.«
    »Hast dich einen Dreck um uns gekümmert.«
    »Ich habe immer an euch gedacht … Ich wollte euch immer Geld schicken, das weißt du.«
    »Wir wollen dein Geld nicht, Hans.«
    Er goss sich das Glas wieder voll. Kippte das Fenster an und rauchte eine Zigarette, während er trank. Scheiß auf das Nichtraucherzimmer. Er hatte einen kleinen runden Reiseaschenbecher neben die Flasche gestellt, eine Art Medaillon zum Aufklappen, Marilyn Monroe lächelte auf dem Deckel. Mandy hatte ihm das vor Jahren geschenkt, also Mandy 1. Die Mandy, seine Mandy. Er hatte nie versucht rauszukriegen, wo sie jetzt war.
    »Ich wäre immer gekommen, das weißt du …, ich wollte immer …«
    »Hast du dich nie gefragt, warum Vater so gelitten hat in all den Jahren?«
    »Ja, er hat gelitten, in den letzten Monaten, und das hat nichts mit mir zu tun.«
    »Hast du dich nie gefragt, was ich meinen Kindern erzählen soll?«
    »Sag ihnen doch einfach, dass Onkel Hans in der großen Stadt ist und Geld verdient.«
    Ein Klicken in der Leitung.
    Hans schaltete den Fernseher an, drückte alle Kanäle durch mit der Fernbedienung, bei irgendeiner »Tatort«-Wiederholung in irgendeinem Dritten blieb er kurz hängen, die beiden Münchner Kommissare, die mochte er sehr, grau waren sie geworden, alle beide, Familie hatten sie auch keine, soweit er das beurteilen konnte, aber unzufrieden schienen sie nicht zu sein, soweit er das beurteilen konnte, der Franz und der Ivo, ja, die mochte er, die strahlten so eine Ruhe aus, waren wie ein altes Ehepaar, der Lockenkopf und der Langnasige, hatte er diese Folge schon einmal gesehen?, der Ivo stapfte durch einen dichten Wald, ach, scheiß drauf, er schaltete wieder aus.
    Er hatte seinen Mantel noch an, spürte den feuchten schweren Stoff, er hatte auch seine Schuhe noch an, sah die schmutzigen Abdrücke auf dem Boden. Wie lange saß er schon hier und blickte durch den Spalt zwischen den Gardinen nach draußen? Das Fenster musste er immer wieder angekippt haben, denn im Raum war es kalt. Und der kleine runde Reiseaschenbecher mit Kippen gespickt. Er nahm den Ascher, ging ins Bad und schüttete die Kippen und die Asche ins Klo. Er drückte den Deckel des Aschenbechers zu, hörte das Klicken des Schließmechanismus, Marilyn Monroe lächelte. Er blickte kurz in den Spiegel. Strich sich durch die kurzen grauen Haare, die er wieder wachsen lassen wollte. Die Haare seines Vaters waren recht lang gewesen, dort im alten Bezirkskrankenhaus. Weiß und dünn reichten sie fast bis zu seinen Schultern. Er hatte seine Hand kurz auf den Kopf seines Vaters gelegt, auf diese seidigen weichen Haare. Und früher hast du geschimpft über meine langen Haare, bis ich mich kahlschor und nach Berlin ging.
    Die Lippen waren fast verschwunden, sie hatten ihm das Gebiss rausgenommen. Wo war das nur? Er konnte es nirgendwo entdecken, weder auf dem Nachttisch noch in dem kleinen Schrank. Und auch die Schublade war leer. Er hatte dafür gesorgt, dass er ein gutes Zimmer bekam, das wusste seine Schwester nicht oder redete nicht darüber. Am Telefon. Wir haben viel zu wenig geredet in all den Jahren.
    Er stand am Spiegel. Nun guck mich nicht so an. Er sah, dass die Kippen im Klo schwammen, und drückte die Spülung. Nach dem kurzen Wirbel des Wassers war immer noch mindestens die Hälfte da. Er hielt den Zahnputzbecher unter den Wasserhahn, drehte auf, bis er überlief, dann trank er. Er nahm den halbvollen Becher mit zum Tisch. Zog dann seinen Mantel aus und hängte ihn über einen Bügel und an die Schranktür. Ich darf den feuchten Mantel nicht in den Schrank tun. Sonst riecht er muffig am Morgen.
    Als er wieder am Tisch saß, merkte er, dass er fror. Das Fenster war gekippt. Er zündete sich eine an. Ich weiß, ich sollte aufhören, Vater.
    Wie blau dieses Bild geleuchtet hat. Tomographie oder sowas Ähnliches. Er hatte mit den Ärzten telefoniert, war hingefahren in die Grenzstadt, ins ehemalige

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