Im Stein
die Dame in Schwarz-Weiß, das Tablett an die Brust gedrückt, blickt erst mit großen Augen zu ihr, zu ihnen, geht dann aber weiter auf ihren Wegen zwischen den Tischen, während sie sich dem Spagat annähert. Aber dann ist Schluss, und sie springt auf und schreit. »Verdammt nochmal, verdammte Scheiße!«
Das klingt so schrill und hoch und tief, wie man eben mit fünfzig klingt, wenn man versucht, kalt einen Spagat zu machen. Sie humpelt noch ein wenig hin und her, Walzer, Walzer in der Endlosschleife, greift sich immer wieder an den Oberschenkel und verzerrt das bleiche, englische Blässe!, Gesicht, dann setzt sie sich.
Du lehnst dich zurück, die Gläser sind leer, du spürst das Pulsieren des Obstlers in deinem Gesicht, beugst dich vor, lehnst dich wieder zurück, lachst in Gedanken, schweigst in Gedanken, schüttelst den Kopf, greifst dann nach ihren Händen, die du nicht so schnell zu greifen, zu fassen kriegst, legst dann deine Hände auf ihre Schultern, beugst dich wieder vor, und da seid ihr euch so nah mit den Köpfen, mit den Haaren, die sich berühren, und sie legt ihre Hände, immer noch leise jammernd, auf deine, und immer noch schweigend, also ohne Worte, lacht ihr.
III
Kaputt. Ich trinke nicht mehr. Kaputt. Nur noch wenig. Seit vielen Jahren. Sehr vielen Jahren schon. Mein Körper und mein Kopf brauchen das nicht. Ich bin auf dem Sprung. Wenn es am schönsten ist, sollte man aufhören. Ich weiß nicht, ob meine Mutter noch da ist. Dort und weit weg. Falls und die Pfalz. Vielleicht bewundere ich sie. Die Tänzerin, nicht Mutter. Mir geht es gut. Ich habe meine Regeln. Am Hafen, dieser lächerliche Hafen dieser lächerlichen Stadt, wo ich jetzt sitze, liege, sitze, warte, es ist die letzte Station. Was soll man bereuen, wenn es nichts zu bereuen gibt. Kaputt sind nur die anderen. Das war in Essen so, das ist hier so. Es sind Spiegel, in die ich mich kleide. An denen sie an mir abgleiten. Ich habe immer die bewundert, die sich den Witz bewahrt haben, meine Kolleginnen, alle meine Frauen. Das kann ich nicht. Der Chef, der Alte, ist in Ordnung. Da habe ich andere Arschlöcher gekannt. Früher hatte ich einen Hass, einen kleinen Hass, gegen die Ostpocken. Als die alle rüberkamen zu uns. Wo all das Volk wissen wollte, wie die so zu vögeln sind. Weil da die Legenden umgingen, ach, wie freizügig die alle sind. Weil’s da Jahrzehnte und gefühlte Jahrhunderte keine Geschäfte gab, bei den Ostpocken, keine richtigen Geschäfte, was den großen goldenen Bums betrifft. Kamen die feinen Damen alle zu uns und machten uns die Geschäfte schwer. Aber da sind inzwischen viele Jahre vergangen. Jetzt kreuzen sich unsere Wege wieder hier. Ich bin nicht verbittert. Ich habe noch einige gute Jahre. Aber in denen will ich weiterziehen. Ich habe einen guten Kontakt in Hannover, dem großen Fleischmarkt, wo die Engel regieren.
Ich sehe das alles rein rational. Ich melke und melke und schaffe zur Seite, was geht. Hatte sogar Fonds und Aktien, aber das ist alles kaputt jetzt. Wer konnte das ahnen, dass Europa verblutet. Aber ich war nicht ganz dumm zum Glück. Zum Glück war ich nicht ganz dumm. Habe das Konto, wo es immer noch reinfließt. Und von den Fonds und Bonds und Aktien habe ich einiges behalten, weil doch ein Übermaß an Chaos irgendwann wieder zur Ordnung führt. Und umgedreht. Wir haben es ja gesehen. Da warte ich und halte den Rest.
Drüben, wenn ich aus dem Fenster schaue, sind die alten verfallenen Speichergebäude des alten Hafens. Dahinter beginnt schon der Wald. Ein Kanal führt bis weit ins Land. Viele schöne Kanäle, neu, fast wie Amsterdam. Dass die Engel jetzt auch hierher gekommen sind und Verträge und Geschäfte machen, habe ich nicht mitbekommen. Weil mich das alles nicht berührt und betrifft. Und dass da vor einem Jahr einer gestorben ist, den ich wahrscheinlich sogar kannte, ein Gast, Kollateralschaden, habe ich erst viel später erfahren. Ich habe oft in solchen Kriegen gesessen und mein Geld verdient. Essen – Hannover – Düsseldorf. Das ist nicht schön, aber es geht immer weiter. Natürlich will ich nicht, dass die Russen, die Jugos oder andere Kanacken in unsere fairen Deals reinschießen. Nicht weit von mir gibt’s noch einen Club. Da ist wohl der Chef mit drin. Aber nur noch ein bisschen hier, und ich bin weg. Ziehe weiter. Habe noch einige Jahre. Bin alles in allem zufrieden. Und ich sage immer: Ist der lange Tag der Arbeit vorbei, werde ich danach alles vergessen. Schnell.
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