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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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das Zentrum der Stahlstadt lag dort vor ihm, hinter den zwei Brücken, zwischen den Armen des Kanals, der Fluss, den er noch nicht gesehen hatte an diesem Nachmittag, lag irgendwo hinter ihm, am Rand der Altstadt, wo sie gewohnt hatten, damals, nicht weit vom Fluss.
    Er wischte sich den Schnee vom Kopf, setzte sich seine Mütze auf. Vielleicht hätte er doch den Wagen nehmen sollen. Aber er ging den Weg seines Vaters, der später dann, als alles zugebaut war, auch nicht mehr so einfach querdurch konnte, ging auch den Weg, den er als Kind und als junger Mann so oft gegangen war. Rüber ins Zentrum. Aber seit über fünfundzwanzig Jahren nicht mehr.
    Als die Straße sich teilte, hatte er kurz überlegt, in welche Richtung er musste, hatte den Bus vorbeifahren sehen, der anders fuhr, als er sich erinnerte, aber sicher machte er einen Umweg über die Neubauten am äußersten Rand der Altstadt, diesem Dorf, das sie vor sechzig Jahren in eine Stadt umgebaut hatten, nein, nicht umgebaut, eine neue Stadt bauten sie drum herum, aber ein, zwei Kilometer weiter gab es noch zwei andere Brücken, über die man ebenfalls das Zentrum der Stahlstadt erreichen konnte. Hans stapfte weiter durch den Schnee, den Strom der Autos neben sich, sah den Bus zwischen den Häusern verschwinden.
    Er stand auf der ersten Brücke, blickte auf die Bahngleise. Mehrere Spuren, am Rand standen Güterwaggons, einige waren oben offen, sahen aus wie große Bergbauloren und füllten sich mit Schnee. Irgendwo dort hinten musste der Bahnhof sein. Vom Hotel konnte er in fünfzehn Minuten zum Bahnhof wandern, schätzte er. Er kam dann am Friedhof vorbei und der alten Kirche. Vielleicht gab es die kleine Kneipe in der Bahnhofstraße noch, dort hatte sein Vater immer Skat gespielt.
    Er stand zehn Minuten oder länger, bis ihm die Füße kalt wurden. Kein Zug fuhr unter ihm. Er zündete sich eine an, das Feuerzeug ging zwei-, dreimal aus im Schneetreiben, er drehte sich zur Straße, blickte auf die vielen Autos, die alle schon mit Licht fuhren, es wurde langsam dunkel, der ganze Tag war trüb und düster gewesen, und auch er hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, als er die Stadt verließ, Richtung Stahlstadt fuhr am Morgen.
    Auf der anderen Seite der Brücke, auf dem Fußweg, sah er einen alten Mann und eine alte Frau, dicht aneinandergedrängt und leicht gebeugt stapften sie durch den Schnee. Hans lehnte sich aufs Geländer, spürte das eisige Metall durch den Filzstoff seines Mantels, warf die halbgerauchte Kippe auf die Gleise und ging weiter, es schien ihm, dass er einen Zug hörte, aber er drehte sich nicht nochmal um, blickte auf das große, nach oben dreieckig zulaufende Speichergebäude am Kanal, das jetzt vor ihm auftauchte, unterhalb der zweiten Brücke, über die die Straße führte. Früher fuhren die Schlepper auf dem Kanal, der am Speicher vorbei fast bis direkt zum Werk führte. Schlepper um Schlepper, Schiff um Schiff fuhr über das dunkle Wasser, die Ufer begradigt und befestigt, asphaltierte Wege neben den Ufern. Als Kind hatte er oft da unten oder hier oben gestanden und auf die Schlepper und Schiffe geschaut. Eisschollen auf dem dunklen Wasser. Es schien ihm hier viel kälter als über den Gleisen.
    Eisschollen auf dem dunklen Wasser. Hinter der Biegung die Lichter und Gebäude des Stahlwerkes, die Schornsteine, aus denen der Dampf drang, der das Stahlwerk zu umhüllen schien, der gewaltige Hochofen ein schwarzer Turm in der Dämmerung; Hans spuckte in den Kanal, sah seinen Vater, der mit einer langen Stange in den rotglühenden Fluss stach, der sich aus einer Art riesigem Fass ergoss, die Funken sprühten, Lichtbögen umgaben den Mann, der sein Vater sein musste, Hans stand am Werkstor, eine Flasche Bier an die Brust gedrückt und wartete, spürte die Kühle der Flasche, blickte auf das graue Gewirr von Stangen, Rohren, Gebäuden, kleinen Türmen, großen Türmen, von Förderbändern verbunden, Straßen dazwischen, Schienen, auf denen kleine Waggons standen, Menschen in Arbeitsanzügen mit dunklen Gesichtern, die Luft schmeckte nach Holzkohle und Salz …
    Hans lief weiter, die Straße führte in ein Neubaugebiet, graue, weiße Plattenbauten, die mussten aus den Sechzigern, Siebzigern sein, soweit er sich erinnerte. Ein Netto-Einkaufsmarkt auf der einen Seite der Straße, auf der anderen Seite leuchtete das große rote K eines Kaufland-Marktes. Er hatte das nie begriffen, warum sich die großen Konzerne das Wasser gegenseitig abgruben. AK

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