Im Stein
Gäste.
Ich mag, dass es hier so ruhig ist. Hörst du dich sagen. Und siehst du dich trinken. Und siehst du euch still lächeln. In Wien habe ich mal Walzer getanzt. Aber das ist wirklich lange her. Der arme Junge. Ein Rosenkavalier.
Du schaust sie an, aber sie scheint nicht zu verstehen. Oder ist abgetaucht in ihre eigenen Erinnerungen. Rosenkavalier, was für ein Blödsinn auch. Goodbye, hochgelobte Distanz. Der Spiegel ist überall. Aber lass es sein, mach dich nicht verrückt und entspann dich. Nur noch vereinzelte Menschen spazieren auf der Straße draußen vorm Fenster. Das Gemurmel hinter ihr verdichtet sich. Gläser klappern.
Wenn du wirklich nicht tanzen kannst …
Nein, ich kann nicht tanzen.
Dann …
Also ich kann schon irgendwie tanzen, ich bin immer gern in die Disko, also früher …, aber eben nicht so das Klassische. Walzer. Nein, wirklich. Nein, nicht.
Sie lächelt und stützt das Kinn auf beide Hände. Verschiebt die Gläser dabei. Du nippst den kleinen Rest aus deinem Glas, spürst den Birnenbrand auf deiner Oberlippe, spürst die feinen Härchen dort, als du mit dem Zeigefinger über deine Oberlippe streichst. Du gehst mit einem Rasierer hin und wieder über deine Oberlippe, sehr vorsichtig, wenn du deine Beine machst, aber du magst den Flaum, der so zart ist, dass ihn keiner sieht, nur wenn du lange nicht drübergehst mit dem Rasierer, wird er dunkler. Das ist erst seit du vierzig bist, und das ist auch schon wieder bald zehn Jahre …, und wieder die Jahre. Hunkepus, Hunkepus, wie in dem Märchen, wo die Tiere alle krank und alt sind und humpeln, Hunkepus, Hunkepus, aber zum Glück seid ihr beide gesund, gelle, und du schaust sie an, wie sie da so sitzt und die Arme aufgestützt hat und sinniert, und schaust dich an im ewigen Spiegel, der Likör, wie sie es nennt, der ein Brand ist aus deiner fernen, jedenfalls nicht ganz so nahen Heimat, die Birne macht eure Gesichter rot, färbt eure Bäckchen rot, nur gut, dass ihr beide keine Solarienfrauen seid, dass ihr euch nicht die Haut bis auf die Knochen runterkochen lasst, dunkel, so dunkel sieht die Haut der jungen Huren bisweilen aus, dass du denkst: Hautkrebs …, dass du denkst: Nein. Zugegeben, ab und an gehst du unter die Höhensonne, die du seit Jahren bei dir zu Hause hast, also in deiner Wohnung hast, aber mit Vorsicht genießt du diese Strahlen, und nur ganz selten und nur für kurze Zeit. Feine englische Blässe, nicht wahr? Wo waren wir stehengeblieben … Ist der Arbeitstag vorbei, habe ich das alles aus meinem Kopf. Alles raus. Sofort. Ich kann nicht sagen, dass ich irgendwie darunter leide, und die meiste Zeit, die meiste Zeit denke ich da auch nicht dran, denke da nicht drüber nach. Sage ich mir. Und das ist das. Die Wahrheit muss man sich immer wieder sagen. So zu sich selbst. Es sind Phantasiegeschichten, nur Phantasiegeschichten. Hinterm Spiegel stehe ich und prügele auch, wenn es verlangt wird. Lack und Leder. Die Anschaffung lohnt. Distanz. Professionalismus. Heimat? Was soll ich dazu sagen. Tanzen?
Walzer ist nicht einfach. Aber schon relativ leicht zu erlernen.
Meinst du, dass ich nochmal, also überhaupt mal …
Das kann auf jeden Fall nicht schaden. Hör doch mal, wie das gleitet, wie man sich da … Ich würde sagen: Ja.
Meinst du jetzt Tanzschule, Mia?
Mia?
Scheiße, sorry!
In der Zeile verrutscht?
Ja, so ähnlich.
Aber das gab’s doch bestimmt auch bei euch im Osten, sowas wie Tanzschulen.
Klar gab’s das. Aber zuerst mal haben wir zusammen gesungen, sind zusammen marschiert, sind zusammen zu den sowjetischen Freunden, Wandzeitungen haben wir zusammen gestaltet und viel viel Sport gemacht. Geturnt, am Barren, Sportgymnastik.
Sag bloß, du konntest Spagat?
Konnt ich. Noch mit siebzehn, achtzehn, neunzehn konnt ich das.
Ich hab Tennis gespielt und mir dabei ein wenig die Knie versaut.
Na, das glaubst du mir nicht.
Was?
Dass ich Spagat kann.
Konnte! Hast du gesagt.
Und da steht sie auf plötzlich, geht ein paar Schritte hinter den Tisch, geht ein paar Schritte in den leeren Raum, den Fußbodenraum zwischen den Tischen, greift mit beiden Händen auf ihre weiten dunklen Stoffhosen, stellt sich breitbeinig in Position und lässt ihre Beine langsam, ganz langsam auf dem getäfelten Holzboden auseinandergleiten. Und du denkst: Nee, Mädchen, mach es nicht, wir sind doch beide fünfzig, auch wenn wir nicht so aussehen.
Aber sie lässt ihre Beine immer weiter, ganz langsam, auseinandergleiten,
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