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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Bezirkskrankenhaus. Obwohl seine Schwester davon nichts wissen wollte. Die ihn erst spät angerufen hatte.
    So sieht der Tod aus, hatte er damals gedacht. Er stand mit seiner Zigarette am Fenster, das er ganz geöffnet hatte, die Gardinen zur Seite gezogen, er blickte auf dieses eine Fenster in dem grauen Neubau gegenüber, das Licht des Fernsehers flackerte dort noch immer, und je länger er in dieses blauweiße Licht blickte … Er warf die Kippe runter in den Schnee, beugte sich weit nach draußen, spürte die Schneeflocken auf seinem Gesicht, bevor er sich mit einem Ruck umdrehte und das Bett sah, die Laken zerwühlt, das Kissen zerdrückt, die Decke an die Wand geknüllt, obwohl er doch noch nicht gelegen hatte. Vorsichtig schloss er das Fenster und zog die Gardinen zu.

    Die Erde prasselte auf den Sarg. Ihr dürft mich nicht verbrennen . Das hatte sein Vater zweimal zu ihm gesagt. Oberhalb des Stroms, in der Grenzstadt, im ehemaligen Bezirkskrankenhaus.
    Er nickte, ein-, zweimal, spürte, wie die letzten Krümel der Erde aus seiner Handfläche fielen, blickte kurz auf den langen Deckel des Sargs, auf dem nur einige Handvoll Erde lagen, nickte noch einmal in das Dampfen seines Atems hinein, dann drehte er sich um. Sah das Gesicht seiner Schwester, die einige Meter neben dem Grab stand, mit ihren beiden Kindern. Sie trug eine schwarze Fellmütze, eine Tschapka. Es schneite seit dem Morgen nicht mehr. Er ging zu ihr, stellte sich neben sie. Während die anderen Trauergäste ans Grab traten, versuchte er, sie so anzuschauen, dass es ihr nicht auffiel. Das runde ovale Gesicht. Wie die Mutter. Dunkelblonde Haare unter der Tschapka. Und er wollte nicht aufs Grab der Mutter blicken, direkt neben dem Loch in der Erde. Seit fast zwanzig Jahren schickte er Blumen auf ihr Grab. Vorhin hatte er die Tannenzweige unterm Schnee gesehen. Wie haben sie nur das Loch in diese steinharte Erde bekommen? Mit einem kleinen Bagger wahrscheinlich. Der Pfarrer stand gebeugt neben dem langen, schmalen Loch. Zwanzig Leute ungefähr waren gekommen. Die meisten kannte er nicht. Oder nicht mehr. Er hatte noch ein paar Großtanten und Großonkel hier. Er blickte über die weißen Gräber, kahle Bäume mit kahlen, dünnen Ästen und schneebedeckte Nadelbäume zwischen den Gräbern. Wenn er den Kopf ein wenig drehte, konnte er seine Schwester sehen, wenn er den Kopf ein wenig drehte, konnte er die kleine Kapelle sehen. Wie alt die beiden Kinder jetzt wohl waren? Er versuchte zu zählen . Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name … Das war vorhin gewesen und noch in seinem Kopf. Dabei war Vater kein Kirchgänger gewesen. Die Mutter schon. Sie sind oft zusammen in den Gottesdienst gegangen, Mutter, er und seine Schwester. Oft hatten sie Kollegen von Vater getroffen, die ihnen Grüße für den Vater mitgaben. Als Mutter gestorben war, einundsiebzig, sind sie nie mit dem Vater in die Kirche gegangen. Nur zu Weihnachten. Weil seine Schwester immer gedrängt hatte. Zu Weihnachten. Auch die Kirche konnte er sehen, den spitzen roten Turm, weit hinter den Bäumen der Allee vorm Friedhof. Altstadt. Vorstadt. Dorf.
    Er spürte plötzlich die Zigarette in seinem Mundwinkel, musste husten, warf sie in den Schnee, sah und spürte, wie seine Schwester ihn anblickte, er drehte sich zu ihr, sagte leise: »Entschuldige«, sah sie lächeln, legte seine Hand auf ihre Schulter, ging näher an sie ran, legte dann seinen Arm um ihre Schulter, sagte noch einmal: »Entschuldige« und spürte, wie sie sich an ihn lehnte, drückte mit der Hand ihre Schulter, spürte, wie er rückwärts stolperte, spürte, wie sie ihn hielt, wie sie mit ihrer Hand an seiner Brust vorbeigriff und seine freie Hand nahm und hielt, und als er ihr ins Gesicht blickte, ließ sie ihn wieder los.
    Die Kinder standen still neben ihnen und blickten ihn an, als würden sie nicht wissen, dass er ihr Onkel war. »Leckt mich doch.« Er zog seine Handschuhe an. Das hatte er so leise geflüstert, dass es keiner gehört haben konnte, während er ging. Die Hände mit den Lederhandschuhen in den Manteltaschen lief er am Grab vorbei zum Tor.

    Er stand in »Liv’s Blumenboutique« in der Bahnhofstraße, der Geruch nach Tannennadeln und Erde, die Hände hatte er auf die Verkaufstheke gelegt. Die Frau kam durch die Tür zwischen den Regalen an der Rückwand, Blumen, Gebinde, Tannenzweige, Kakteen, große Pflanzen mit dunkelroten Blüten in großen Töpfen, sie hielt ein paar Zettel in

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