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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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hinhocken und hineinsehen in diese Dunkelheit, ob ein Tor irgendwo hinter den Eingängen war oder ob der Weg, die Schienen direkt in jene Kammer führten.
    »Der große AK verliert die Nerven? Setzen sie dir so zu, alter Freund?«
    »Freund? Das war einmal. Das ist lange her. Es ist gar nicht so sehr, dass du ein Verräter bist …« Er hatte sich wieder beruhigt, war aber langsam Richtung Tür gegangen, aus der sie gekommen waren.
    »Verräter? Vielleicht. Wir sind wohl beide nicht mehr die, die wir mal waren.«
    AK blieb an der Tür stehen. Steffen lehnte an der Säule, blickte ihn nicht an, blickte an die Wand gegenüber, hielt seinen Plastikbecher direkt vor seiner Brust. AK schwieg, wartete. Er wusste, dass der andere gleich etwas sagen würde. Dass er seine Geschichte erzählen wollte. Dass er sich rechtfertigen wollte. Später, am Abend, als er wieder draußen auf der Veranda am See saß, ein Glas Rotwein trank und auf die Silhouette der Berge schaute, versuchte er, sich an seine Flucht durch die Katakomben zu erinnern, an sein Zurückkehren in den Raum mit den Öffnungen, die Backöfen ähnelten, er hatte einmal als Kind in eine Bäckerstube geschaut, bei der Oma auf dem Dorf, hatte gesehen, wie die riesigen Brotlaibe (in seinen Erinnerungen sind sie groß wie Körper) auf den Blechen in die halbrunden Öffnungen geschoben wurden, in denen es rot glühte, versuchte, sich zu erinnern, ob …, und ist er wirklich durch diese unterirdischen Gänge geirrt, vor Stunden erst, die Stimme seines ehemaligen Mitarbeiters Steffen hinter sich, der ihm aber nicht gefolgt war, und warum floh er? Oder wollte er einfach raus dort, verschwinden, nach Hause, zurück in den Herbstnachmittag, der schon längst zum Abend geworden war. Geducktes Hasten, die Luft mal kalt, mal stickig, Türen aus Eisen, Abzweigungen, und immer wieder ein Gewirr aus Rohren, Röhren an den Wänden, Zylinder, Hähne mit Messgeräten, graue Zinkrohre, rötliche Kupferröhren, die Luft mal heiß, mal kühl, Lüftungsschächte sah er keine, alle paar Meter das matte Leuchten einer kleinen Glühbirne hinter vergittertem Milchglas, dann plötzlich Licht von oben, wellenförmig bewegte es sich vor ihm auf dem Boden, ein großes, rechteckiges Glasfenster in der Decke, AK blickte in den Teich, das langgezogene Wasserbecken vorm Krematorium, denn weiter konnte er nicht gekommen sein, sah durch das trübe grüne Wasser den Abendhimmel, der sich auch bewegte, von einigen rötlichen Schlieren durchsetzt, sind das Fische oder Vögel, die über der Wasseroberfläche kreisen, oder Flugzeuge weiter oben, Zeppeline, die der Teich, die das Wasser in einer seltsamen Brechung zu ihm bringt, wie durch mehrere Linsen …, er hört das Knirschen der Scheibe über ihm, »Komm doch rein, es wird kalt. Und es soll Regen geben.«
    »Gleich, Katrin. Ich trink meinen Wein noch aus.«
    »Katrin?«
    »Entschuldige.«
    »Trink nicht so viel!«
    »Ich hatte einen langen, harten Tag.«
    »Ja, ja, du hast immer lange, harte Tage. Und sag mir lieber gleich, wer Katrin ist.«
    Er rennt durch den Gang, geduckt, stößt sich ein paarmal den Kopf, hört Lachen von irgendwoher, aber vielleicht bildet er sich das nur ein, vielleicht muss er sich an die Rohre halten, muss diesem Aderwerk an den Wänden folgen, das nicht in alle Abzweigungen des Ganges führt, der sich wieder teilt, er rüttelt an einer Eisentür, »System III« steht dort, schwarze, abgeblätterte Farbe, jemand klopft von innen, wer ist dort eingeschlossen?, hört er Stimmen?, aber er läuft weiter, er muss den Weg nach draußen finden, dann hört er das Rauschen hinter sich, das immer lauter wird, das Wasser stürzt über ihn hinweg, er hält die Luft an, er fällt, wird mitgerissen von dem Strom, er treibt mit offenen Augen, Wasserwirbel um ihn, die Lichter hinterm vergitterten Milchglas, er presst die Lippen zusammen, sieht vor sich den Raum mit den beiden halbrunden Öffnungen, er versucht, sich an den Wänden festzuhalten, kämpft gegen die Strömung, die ihn dort hinreißt, er war ein guter Schwimmer gewesen, ist es immer noch …, Meter um Meter …, und da schauen sie ihn an, die Gesichter …, schauen aus den höhlenartigen Ein- oder Ausgängen.
    »Schonmal was von der chinesischen Meile gehört?«
    »Was?«
    Sie sitzen beide an der Wand, direkt neben den Schienen, die in die zwei Öffnungen führen. Zwischen ihnen steht eine Flasche Weinbrand. Er nimmt sie und schaut auf das Etikett. Seine Hände sind feucht.

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