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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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besser, der Bahnhof, nachts.
    Du hast ein Einzelzimmer, und alles ist weiß und sauber, ein Kunstdruck an der Wand, Blumen, und du erinnerst dich an das Piepen der Notaufnahme, Intensivstation, das gleichmäßige leise Piepen aus all den Betten, dann und wann ein Stöhnen, Schnarchen laut, Schnarchen leise. Der Neuner-Rat, denkst du, die Ritter der Tafelrunde, denkst du, während du schon halb schläfst und woanders bist, du bist weg und wieder da, weg und wieder da, der Neuner-Rat trifft sich bald wieder, und dann musst du fit sein und ihnen zeigen, dass du all das regeln kannst, notfalls alleine, du und Alex und deine Leute. Ein Piepton, langgezogen und nicht enden wollend, und du fasst auf deine Brust und spürst das gleichmäßige Pochen und hörst das gleichmäßige Piepen, der lange Ton wird zu einem Pfeifen, zu einem schrillen Pfeifen in deinen Ohren, in deinem einen Ohr, auf dem anderen bist du fast taub, seit ein Tritt im Ring dir dein Trommelfell zerfetzt hat, und dann die Knarre, die der Typ, der heute kaum noch laufen kann, neben deinem Ohr abgefeuert hat, die Ritter der Tafelrunde, wie gern hast du das gelesen als Kind, König Artus und Parzival, der den Gral gesucht hat, bis er wahnsinnig geworden ist, Sir Galahad und seine Freunde, und du hörst das Trappeln der Ärzte, während du noch halb woanders bist, die Seiten rascheln, die Schwerter klirren, und du am Kopfende mit goldenem Helm, aber wie soll das gehen bei so einem runden Tisch, du hörst ein Husten, ein dumpfes Luftausstoßen, das fast wie ein Brüllen klingt, leben, da will jemand leben, und dann hörst du das gurgelnde Einatmen der Luft. Die Ärzte und Pfleger sprechen leise miteinander, das gleichmäßige Piepen um dich herum, und dein guter alter Sinn kann dir nicht sagen, ob da der Tod war oder ob es weitergeht.
    Deine Augenlider flackern, das Licht wie ein Stroboskop, und du siehst Schatten um dein Bett herum. Wie spät ist es?, du fühlst nach deiner Breitling, aber die ist weg. Deine Beine sind steif, als wären sie aus Holz, du drehst den Kopf und siehst den Druck mit den Blumen wie einen dunklen Farbklecks an der Wand gegenüber. Du wünschst dir, dass es Tag wäre, aber dann würde das Sonnenlicht ins Zimmer fallen.
    Du öffnest die Augen, und du bist nicht allein. Eine Frau sitzt da, auf dem Stuhl an der Wand, direkt unter dem Druck mit den Blumen. Sie ist schwarz, die Haut, und schwarze lockige Haare und ein hellrosa Kleid. Du begreifst nicht gleich, denn das kann nicht sein. Ein paar Afrikanerinnen arbeiten bei dir, am Anfang waren es die Fidschis, jetzt sind es die Afrikanerinnen, aber wieso kommt ausgerechnet diese dich besuchen. Und haben sie dir nicht gesagt, Besuch erst in ein, zwei Tagen. Aber vielleicht hat sie sich reingeschlichen. Ein Mann ist immer unten im Auto direkt vorm Eingang, dafür hat Alex gesorgt, und auch die Bullen passen auf. Aber nur die besten Mädels arbeiten für dich. Du richtest dich halb auf, drehst dich zu ihr. Sie sitzt da, blickt dich an und bewegt sich nicht. Ihr Gesicht wie aus schwarzem Stein. »Arnie«, sagt sie, und ihre Lippen bewegen sich kaum. »Mary«, sagst du, und sie spricht weiter, und das klingt seltsam in dem kleinen Zimmer, das dir vorhin noch so groß vorkam. Irgendetwas stimmt nicht, denkst du, was macht sie hier?, und was sie sagt, ist falsch. Du möchtest dich wegdrehen, und jetzt wäre die Decke über deinem Gesicht vielleicht ganz gut, aber sie ist hier. Und als du irgendwann, vorhin oder gestern oder vor Stunden, an das viele Blut gedacht hast, war sie auch hier. »Wir haben damals alles getan«, sagst du. Und das stimmt sogar. Ihr habt ihn erwischt, ein paar Wochen später, und wenn die Bullen nicht dazwischengefunkt hätten, würde er jetzt irgendwo vor der Stadt liegen, und in ein paar Jahren wäre dort das Gras besonders saftig … (Nein, das war nur dein erster Zorn damals, sie war eins von deinen Mädchen, in deinen Räumen, und deine Schultern und dein Nacken und deine Brust haben geschmerzt, als hättest du Gewichte gestemmt, die ganze Nacht und den ganzen Tag, aber ihr hättet ihm wahrscheinlich nur ein paar Knochen gebrochen.) »Er hat mich geliebt«, sagt sie.
    »Vielleicht«, sagst du und versuchst, ganz locker zu sein, aber das Blut und sie kriechen in deinen Kopf, da ist ein Pflaster oberhalb der Stirn, dort, wo du auf die Straße geschlagen bist, vor Tagen, vor Stunden, irgendwann. Der Typ war jung, Anfang zwanzig vielleicht, neunzehn, wie du später erfahren

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