Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
Vom Netzwerk:
Idiot ist dort hingegangen, wo du warst. Nach oben. Aber noch bist du nicht ganz dort, vielleicht wird das jetzt der letzte Schritt, ein Wink des Schicksals, an das du manchmal noch glaubst. Wieso hat er so lange gewartet? Das muss dreiundneunzig gewesen sein. Und er ist vier Jahre später gekommen. Nein, du hattest nichts zu tun damit. Aber du hast es gewusst, alle haben es gewusst. Und dann ist er aufgetaucht und ist zu dir gekommen, weil er dachte … Was hat er gedacht, dieser Idiot? »Wenn du deine Drecksfinger mit da drinnen hattest, bring ich dich um!« Sie haben ihn nach draußen geschleift, ein kleiner Mann, eins sechzig, Ex-Jockey, Ex-Trinker, wie du später erfahren hast. »Hörst du, Lude! Dann bring ich dich um!« »Sollen wir ihn …« »Nein. Lasst ihn gehen. Und wenn er nochmal kommt, lasst ihn nicht rein. Mehr nicht. Lasst ihn nur nicht rein.« Du hast ihn schreien gehört, während sie ihn rausschleiften. »Ich bring dich um! Ich stech dich ab!«
    Du hast dich umgehört. Wusstest dann, wo seine Tochter ist. Achtzehn war sie damals, also vierzehn neunzehnhundertdreiundneunzig, und alle haben es gewusst. Von ihr und den anderen.
    Dir ist kalt, und du schiebst die Hände unter die Decke. Du hättest den Laden kurz und klein schlagen können, so wie du andere Läden kurz und klein geschlagen hast. Wolltest du damals schon an die Papiere?, Staatsanwälte, Richter und Bullen und Geldsäcke, die auf kleine Mädchen standen. Du bist abends allein durch die Straße gefahren, hast ein paar andere Mädchen nach ihr gefragt. Die meisten kannten dich nicht. Mit diesem Dreck hattest du nichts zu tun. Drogenwracks. Fixer. Solche Mädchen arbeiten nicht bei dir. Da hatte der Bielefelder recht, »Drogenmädchen machen das Geschäft kaputt.« Ein bisschen Koka und sowas hat noch keinem geschadet, in Maßen, in Maßen …, aber das … Dir ist schlecht geworden, als du all das kaputte Fleisch gesehen hast. Dunkelrot und weiß und zerfetzt und fast schon schwarz.
    Und da stand sie an einer Ecke, direkt vor einem Blumenladen, der auch Zeitungen und Getränke verkauft, die Mädchen, die du nach ihr gefragt hattest, wollten sich in deinen BMW drängen, rieben sich an der Tür, beugten sich über die Motorhaube, und du hättest kotzen können, obwohl, wenn die Nadel nicht wäre, könntest du ihnen ein Zimmer in einem deiner Objekte geben, ein Hurenentzugsprogramm, das wär vielleicht was, aber ohne den Suchtdruck würden sie wahrscheinlich sonstwas machen, Verkäuferin in einem Laden für Blumen und Zeitungen und Bier, was für eine Mischung!, und die meisten haben die Syph oder den Tripper oder vielleicht sogar Aids, die bumsen doch ohne, sonst würden diese ganzen Penner, die hier langsam mit ihren Karren vorbeifahren, die Augen groß wie Fünfmarkstücke, zu deinen Mädels kommen.
    Du hast sie gleich erkannt, dein siebter, achter Sinn …, sieht dem Vater ein kleines bisschen ähnlich, und dessen Gesicht wirst du nie vergessen, wie es geschrien hat. Und dann sitzt sie neben dir, genauso klein und schmal wie der Vater, kurze struppige Haare, Pickel auf der Stirn und im Gesicht, mit Schminke verkrustet, ein Minirock wie ein Gürtel, ein T-Shirt, durch das du ihre mageren Brüste und die Nippel siehst, als wäre sie noch vierzehn, wie damals, aber da kanntest du weder sie noch die anderen, hattest nichts damit zu tun, und sie erzählt dir, was sie alles macht und für wie viel, und das ist wirklich nicht viel, und du überlegst dir, ob sie das auch mit vierzehn gemacht hat und ob sie da clean gewesen ist, als die Säue über sie drübergerutscht sind, erinnerst dich, dreiundneunzig kam man hier auch schon an jeder Ecke an Heroin, überlegst, ob die Papiere und die Filme das wert sind, dass du damals stillgehalten hast, überlegst, ob vielleicht nicht so oder so alles so gekommen wäre, wie es jetzt ist, aber weißt, dass das damals sie kaputtgemacht haben muss. Sie fingert an dir rum, und du sagst: »Lass das« und gibst ihr Geld und sagst ihr, dass sie gehen soll, und weißt, was sie mit der Kohle machen wird, und denkst, dass du wiederkommen musst, aber vielleicht nicht wiederkommen wirst. Du siehst sie über die Straße trippeln, an dem Laden vorbei und dann weiter Richtung Bahnhof. Du hast ihr eine Menge Geld gegeben, wie erstaunt sie geguckt hat, die Augen groß wie …, aber trüb und rot. Vielleicht ist sie schlau und nimmt irgendeinen Zug, es gibt Nachtzüge nach Paris und Kopenhagen, aber du weißt es

Weitere Kostenlose Bücher