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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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hast. »Du hättest eher kommen sollen«, sagt sie, und das verstehst du nicht und willst es nicht verstehen, denn sie ist doch gekommen. Das Laken unter dir ist nass. »Du solltest nicht hier sein«, sagst du. Und die Schatten, die du vorhin durch deine Augenlider gesehen hast, sind wieder da, und du schüttelst den Kopf, weil da eine Hand in deinen Haaren ist, sie steht jetzt vor deinem Bett, und du ziehst die Decke bis unter deine Nase und spürst deinen warmen Atem auf deinem Gesicht. Wie sie dich anblickt, du kannst das nicht ertragen, du kannst so vieles plötzlich nicht mehr ertragen, und das Zimmer ist jetzt voller Menschen, ihr Atem, ihre Geräusche, ihre Gerüche, sie tuscheln und wispern. »Ich liege vor der Stadt«, hörst du, und du weißt, wo sie liegt, im Moor, weißt es nur ungefähr, hast sonst nichts damit zu tun. »Und bei meiner Arbeit, auf dem Gericht, wie läuft es da ohne mich?« Das hörst du und ziehst dir die Decke bis hoch zu dem Pflaster über deiner Stirn. Denn du weißt, wenn du aufstehst und zwischen ihnen durchs Zimmer humpelst und die Tischschublade aufziehst, liegt dort ein kleiner Mensch drin und lacht dich meckernd an. Lasst mich in Ruhe, denkst du, und vielleicht flüsterst du es auch, geh weg, Mary, denn du hast das alles mitgebracht!
    Du stehst vor ihr und blickst auf diese riesige Wunde in ihrem Hals, wie ein schwarzes Grinsen von einem Ohr zum andern. »Da ist ein Typ, Arnie, der kommt immer wieder, der macht mir Angst.«
    »Ein Stammkunde, Mädchen, den musst du dir warmhalten, mach ihm ruhig schöne Augen, und wenn es Probleme gibt, ruf mich an.«
    Dein Telefon klingelt. Du suchst in deinen Taschen, kein Klingeln, ein Summen und Vibrieren, du hast es leise gestellt. Es fällt runter, der Akku springt raus, wo ist die SIM-Karte?, und du rollst dich auf die Seite. Da blinkt und glitzert etwas neben dir. Du greifst danach. Eine Patronenhülse. Die Sirenen werden leiser. Der Boden unter dir ist nass. Du drehst dich wieder. Da vorne blinkt eine Ampel, gelb. Kühl vom Fluss. Du zitterst. Die Türme des alten Stadions. So dunkel.

Die Nacht des Reiters
    Sie erzählen sich Geschichten über den kleinen Mann. Dass er nie schläft. Und dass er sucht. Seit vielen Jahren. Jede Nacht. Dass er mal ein berühmter Reiter gewesen ist. Ein Pferdemann. Bevor er anfing zu trinken. Manche erzählen, dass er auch schon getrunken hat in seinen großen Zeiten. Andere sagen, dass sie ihn selbst noch gesehen haben, auf dem Rücken der Pferde. Als sie Kinder waren. Der kleine Mann sucht sein Kind, sagen sie. Seine Tochter. Und dass er nicht mehr trinkt, weil seine Leber kaputt ist. Andere sagen, dass er wieder angefangen hat. Und dass er immer kleiner und dünner wird, weil der Schnaps ihn auffrisst. Und dass er einmal das große Derby gewonnen hat, in den Achtzigern, als sie Kinder waren. Genau wissen sie’s aber nicht. Die meisten sind zu jung, können ihn nicht gesehen haben, als sie Kinder waren, in den Neunzigern, denn da ritt er nicht mehr. Nur jetzt, in den Nächten. »Da habe ich ihn mal gesehen.«
    »Ach, gesehen hast du ihn?«
    »Ja.«
    »Wo denn?«
    »Das muss paar Jahre her sein, zwo-drei, zwo-vier …«
    »Auch schon wieder lange …, aber nicht so lange. Und seitdem nicht mehr?«
    »Aber ich höre ihn manchmal. Hinterm Bahnhof, auf dem Bahnhof.«
    »Hören? Du bist doch nicht wieder auf Koks oder rauchst die Diamanten? Kristall?«
    »Natürlich nicht, das weißt du doch. Sonst wär ich doch nicht mehr hier, oder?«
    »Ja, ja. Nichts gegen eine kleine Nase, wenn du zu Hause bist, ist ja dein Feierabend, aber wenn du richtig cash machen willst über die Jahre, trink Möhrensaft, ACE. Aber Steine, Kristalle …, schlimmer als jede Nase, die Diamanten brennen dich aus.«
    »Ich weiß, ich weiß. Das ist schon lange her, Arnold.«
    »Ja, ja, ist immer alles lange her. Und da erzählst du mir trotzdem von Hufen, Hufgeräuschen, in der Nacht.«
    »Tut mir leid, Arnold, ich hätte nicht davon anfangen sollen.«
    »Schon gut, schon gut. Wir alle träumen mal schlecht.«
    »Ich bin dir wirklich dankbar, dass ich bei dir …«
    »Tu mir einen Gefallen …«
    »Ja?«
    »Wenn du arbeiten willst, arbeite. Und zahl deine Miete. Und du zahlst deine Miete. Und wenn du nicht mehr arbeiten willst, sag es mir. Sag es mir einfach. Wenn du nicht mehr kannst. Und wenn du Urlaub brauchst …«
    »Ich brauch keinen Urlaub. Und ich bin seit fünf Jahren sauber.«
    »Du weißt, dass ich diese Drogenscheiße

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