Im Sturm der Gefuehle
Kopfverletzung konnte man dem grässlichen Sturz über die Treppe zuschreiben, da er nicht wild zugeschlagen, sondern einen einzigen, zielsicheren Hieb ausgeführt hatte, der von einem Aufprall auf einer Stufenkante herrühren konnte. Zweifellos würde man zu diesem Schluss kommen.
Nach einem tiefen Atemzug lächelte er vor sich hin. Alles war gut gegangen, obwohl er sich eingestehen musste, dass er einen schlimmen Moment lang befürchtet hatte, es könnte schief gehen, als Sophy so angestrengt in seine Richtung blickte. Hatte sie ihn gesehen? Er bezweifelte es. Sie hatte keine Anzeichen erkennen lassen. Andernfalls wäre er gezwungen gewesen, auch sie zum Schweigen zu bringen.
Er verdrängte diesen Gedanken, als er sich selbstzufrieden im Spiegel betrachtete und leicht an seiner kunstvoll gebundenen Krawatte zupfte. Er erstarrte mitten in der Bewegung, als er mit eisigem Entsetzen feststellte, dass seine Krawattennadel verschwunden war. Noch dazu eine sehr auffallende Nadel mit einem großen, blutroten Rubin in erlesener Fassung, eine Kombination, wie man sie an Krawattennadeln eleganter Gentlemen nur selten sah. Während er sich sagte, dass er sie jederzeit hätte verlieren können, ging er hastig daran, sein Zimmer zu durchsuchen. Sie war nirgends zu finden. Wo zum Teufel hatte er sie verloren? Auf dem Korridor etwa? Dann hatte er nichts zu befürchten. Er atmete tief durch. Auch wenn der Rubin auf der Treppe gefunden wurde, konnte man ihm nichts anhaben. Wenn er aber unter Simons Körper lag ... Er schluckte. Denk nicht daran. Du bist nicht gefährdet. Eine Bagatelle wie eine Krawattennadel wird dich nicht ins Unglück stürzen! Er hatte jetzt lange genug getrödelt. Es war Zeit, sich unauffällig zu den anderen zu gesellen. Er lächelte. Marlowe, dieser Narr, hatte geglaubt, er könnte Le Renard , den Fuchs, in die Knie zwingen. Hoffentlich würde die süße Sophy seine Mühe zu würdigen wissen.
Sophy, die wach in ihrem Bett lag, noch immer voller Unbehagen und aufgewühlt von der Szene mit ihrem Mann, fuhr kerzengerade auf, als sie einen gedämpften Aufprall hörte, dem ein dumpfes Geräusch folgte, als poltere ein schweres Objekt über die Stufen. Was war das? Simon?
Wieder schlüpfte sie in ihren Morgenmantel, lief an die Tür, sperrte auf und trat hinaus auf den Korridor. Dunkelheit begegnete ihrem Blick. Nur die Geräusche des Unwetters waren zu hören. Etwas drängte sie jedoch weiterzugehen, und nachdem sie hastig eine Kerze angezündet hatte, eilte sie zur Treppe. Als sie Simons reglose Gestalt unten auf dem Boden liegen sah, schnappte sie nach Luft. Ist er tot? War er wirklich so betrunken, dass er gestolpert und gestürzt war?
Ehe sie Zeit hatte zu überlegen, was sie tat, lief sie hinunter an seine Seite. Sie kniete neben ihm nieder, stieß ihn sachte an und rief leise: »Simon? Bist du verletzt?«
Er gab keine Antwort und würde nie eine geben. Das flackernde Licht ihrer Kerze zeigte ihr deutlich den unnatürlichen Winkel des Kopfes zum Körper und das Blut im dichten schwarzen Haar. Sie hatte keine Ahnung, ob es der Genickbruch war, der seinen Tod herbeigeführt hatte, oder der Aufprall seines Kopfes auf den Stufen, aber Simon Marlowe war zweifelsfrei tot. Nie wieder würde er an ihre Tür hämmern. Nie wieder würde sie ihm mit einer Pistole entgegentreten müssen.
Sophy erhob sich totenblass und auf wackligen Beinen. Ihr erster Impuls war es zu schreien und das ganze Haus zu wecken, als ihr ein schrecklicher Gedanke kam. Nur Augenblicke zuvor hatte sie auf Simon geschossen. Alle wussten, dass sie ihn hasste. Und Simon war diese Treppe sein Leben lang hinauf- und hinabgegangen, betrunken oder nicht. Nun würde man gewiss die Frage stellen, warum er ausgerechnet in dieser Nacht gestürzt war. Fast unmittelbar, nachdem sie auf ihn geschossen hatte und ihm gedroht hatte, wieder auf ihn zu schießen. Ihr schauderte. Würde man womöglich glauben, dass sie ihm einen Stoß versetzt und ihn ermordet hatte?
Während sie auf den leblosen Körper hinunterblickte, fing sie zu zittern an. Man darf mich hier nicht finden, dachte sie wie vor den Kopf geschlagen. Das Verlangen, wegzulaufen und sich zu verstecken, war überwältigend. Sie drehte dem grässlichen Anblick des toten Simon den Rücken, wankte zur Treppe und lief hinauf. Auf halber Höhe innehaltend, hob sie die Kerze und warf einen Blick zurück. Sie starrte seine reglose Gestalt an, kaum imstande zu begreifen, was passiert war. Er war tot,
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