Im Sturm der Gefuehle
sind einige von Simons Freunden der Meinung, du hättest ihn die Treppe hinuntergestoßen. Ich glaube, du solltest hier bleiben, bis sich alles ein wenig beruhigt.«
»Danke für deinen Rat, Onkel, aber ich bin entschlossen, in Zukunft mit Marcus und Phoebe zu leben.« Ihr Ton wurde härter. »Jemand muss sich ja um sie kümmern.«
Wie Simon war Edward dreiundvierzig, doch beeinträchtigten die Spuren ungezügelter Liederlichkeit seine jungenhaft hübschen Züge nur wenig. Ganz so jugendlich wie zehn Jahre zuvor sah er nicht mehr aus, doch die Fältchen in seinem Gesicht schienen ihn fast noch anziehender zu machen. Er war unleugbar eine eindrucksvolle Erscheinung - dichtes blondes Haar, das die breite Stirn freiließ, eine gestärkte und elegant geknüpfte Krawatte, die Figur hoch gewachsen, geschmeidig und stets von den teuersten Londoner Schneidern modisch gekleidet. Sophy aber wusste, dass an ihm alles falsch war.
Seinen aufwändigen Lebensstil bestritt er aus dem Vermögen ihres Vaters. Sein eigenes, nicht unbeträchtliches Erbe hatte Edward schon vor Jahren am Spieltisch verloren. Er war schwach, eitel, skrupellos und egoistisch. Doch seit ihrer Heirat hatte er nicht mehr über sie zu bestimmen, da sie mit ihrem Vermögen wie ein Möbelstück aus der Verfügung ihres Onkels in jene ihres Gatten übergegangen war. Sie lächelte voller Bitterkeit. Es hatte Edward gar nicht gefallen, dass ein so großer Brocken vom Vermögen der Graysons seinen Händen entglitten und Simon zugefallen war, doch musste er sich damit abfinden, da ihr Vater testamentarisch verfügt hatte, dass sie ihren Anteil am Vermögen bei ihrer Eheschließung bekommen sollte. Für sie selbst hatte sich natürlich nichts geändert, da das Gesetz es ihrem Mann überließ, mit ihrem Vermögen nach Belieben zu verfahren - es zu horten oder zum Fenster hinauszuwerfen. Zum Glück war Simon so reich, dass er ihr väterliches Erbe nicht angetastet hatte. Und als Witwe besaß sie viel mehr Rechte als eine Ehefrau oder Tochter, wie ihr schlagartig klar wurde. Sie konnte nun machen, was sie wollte. Endlich würde sie volle Verfügungsgewalt über ihr Erbe haben - und über das ansehnliche Wittum, ein Einkommen, das ihr Simon bei der Heirat in einem schwachen Augenblick auf Lebenszeit zugesichert hatte. Auch dies stand ihr nun ohne Einschränkung von dritter Seite zur Verfügung. Das väterliche Erbe und das Wittum ihres Mannes machten sie zu einer sehr reichen jungen Frau. Wichtiger noch, sie würde zum ersten Mal im Leben nicht der Autorität eines Mannes unterstellt sein, sei es der eines Vaters, Vormunds oder eines Ehemannes. Besonders der eines Ehemannes!
Edwards "Worte bestätigten ihre Überlegungen. Mit einem düsteren Blick murmelte er: »Nun, ich kann dich nicht daran hindern. Wenn du möchtest, dass die Leute glauben, du hättest deinen Mann ermordet, ist das deine Sache.«
»Danke für deine Fürsorge«, sagte sie trocken. »Wenn du nichts dagegen hast - ich muss jetzt gehen. Vor meiner Abreise muss ich mich noch um einiges kümmern.«
In der Kalesche der Marlowes, die der neue Lord Marlowe ihr liebenswürdigerweise für die Reise zur Verfügung gestellt hatte und auf der sich ihre Habseligkeiten türmten, verließ Sophy zwei Stunden später den Ort, der für drei lange, jammervolle Jahre ihr Zuhause gewesen war, einen Ort, den sie nie im Leben wieder zu sehen wünschte. Ihre Gedanken waren ganz in die Zukunft gerichtet. Nur ein paar Tage, und sie würde zu Hause bei Marcus und Phoebe sein. Und diesmal würde niemand sie wieder trennen können.
Sie lächelte, ihre schönen goldenen Augen blitzten vor unterdrückter Erregung. Vor ihr lag ihre ganze Zukunft, und alles war so völlig anders als noch vor kurzen achtundvierzig Stunden. Sie war jung. Sie war reich. Und sie war frei!
1
London, England
April 1809
Das Gedränge in den luxuriösen Räumlichkeiten war geradezu beängstigend, das Gelächter und Geplauder der eleganten Herrschaften von fast aufdringlicher Lautstärke. Die glanzvolle Gästeschar und die beklemmende Enge verrieten, welch großer Wertschätzung sich eine Einladung Lord und Lady Dennings erfreute.
Nachdem er in einer kleinen, ruhigen Nische einen Standort gefunden hatte, von dem aus er alles beobachten konnte, betrachtete Viscount Harrington die wogende Menge mit kritischem Auge. Das also war der Gipfel gesellschaftlicher Ambitionen: sich in überheizten Räumen wie Rekruten im Schiffsraum auf der Fahrt in das
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