Im Sturm der Sinne
der Stein mehr als ein Jahrzehnt entzogen hatte, hatten ihre Sinne sich zu regen begonnen. Ein Bild von Meer und schroffen Klippen, die mit Heide überzogen waren, hatte ihr gesagt, dass der Stein nicht mehr länger in Gaul war. Wenn aber Childebert Männer nach Schottland schickte und den Stein fand, würde er ihn, im Austausch für den mächtigen Schutz Roms, den allzeit bedürftigen Händen der Kirche übergeben. Die Weisheit der Göttin wäre für alle Zeiten verloren. Wenn er gefunden würde, musste der Stein in die Grotte in Languedoc zurückkehren und die Priesterinnen wieder an ihren Platz gerufen werden. Es war ihre Pflicht, dass dies geschah.
Sie konnte die Vision nicht verleugnen, aber sie hatte die Männer ihres Cousins stattdessen Richtung Rom geschickt, während sie selbst plante, nach Piktland zu fahren, um dort den Vater zu besuchen, den sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Wenn Childebert ihre Spur bis zu einem Fischerboot, das in Calais ablegte, verfolgte – und das würde er –, würde er davon ausgehen, dass sie zu dem Hafen nahe bei Londinium gefahren war. Hoffentlich würde er sie nicht so weit im Norden vermuten.
Aber was sollte sie diesem verstimmten Eros sagen, der jetzt mit fragendem Blick vor ihr stand?
»Ich komme aus Armorica, über dem Meer.«
Er runzelte die Stirn. »Dann bist du weit von deiner Heimat entfernt. Wie bist du hierhergekommen?«
Was nun? Zwanzig bis dreißig rotbemäntelte Kavalleristen, die für jedermann wie eine Turma aus den alten römischen Legionen aussehen mussten, hatten letzte Nacht ihre kleine Eskorte umzingelt und entführt. Dion, der stämmige Anführer ihrer treuen Wache, hatte sich in die Verteidigung gestürzt, aber er war letztendlich schwer verwundet über den Rücken eines Pferdes gelegt und mit den anderen Männern abgeführt worden. Hätte sich Deidre, um bei ihren Verrichtungen ungestört zu sein, nicht etwas zu weit in den Schutz der Bäume zurückgezogen, wäre auch sie entführt worden. Sie presste den Beutel mit dem Buch an sich; dem Himmel sei Dank, dass in der Tasche Dinge waren, die sie zum Austreten benötigte, und sie sie mitgenommen hatte. Es war alles was sie hatte. Sie hasste Lügen, aber sie hatte keine Ahnung, zu wem diese Truppen gehörten … vielleicht sogar zu ihrem Helden. Bis sie das Land ihres Vaters erreichte, durfte sie sich auf keinen Fall zu erkennen geben.
»Ich … äh … war auf Reisen; unser Wagen wurde von Wegelagerern angegriffen. Ich konnte gerade noch entkommen.«
Er hob eine dunkle Augenbraue. »Mein Vater wird darüber nicht gerade erfreut sein. Warst du auf dem Weg nach Culross? Hast du hier Verwandte?«
Culross beim Firth of Forth war nahe an ihrem Ziel. Oder zumindest dort, wo sie Caws Land vermutete. »Ja.«
Gilead hielt inne und wartete offenbar darauf, dass sie fortfuhr. »Meine Mutter ist tot.« Unnötig, ihm zu sagen, wie lange schon, und dass sie das Land ihres Vaters für einen guten Ausgangspunkt für ihre Suche hielt. »Ich gehöre zu der Sippe von Caw von Piktland«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, er würde mich aufnehmen. Kennt Ihr ihn?«
»Ja. Seine Frau ist entfernt mit meiner Mutter verwandt.« Augenblicklich wurde sein Gesicht sanfter. »Aber Caw wurde schon lange in den Westen verbannt. Er starb vor nicht allzu langer Zeit in der Schlacht.«
Deidre zog scharf die Luft ein. Seit ihre Visionen von dem Stein zurückgekehrt waren, war ihr Ziel gewesen, zu Caw zu gelangen. Childebert wusste nicht, wer ihr Vater war; dort wäre sie also sicher gewesen. Sie musste schlucken, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Nun, da sie ganz allein war, würde sie Nahrung und Unterkunft brauchen; und sie musste herausfinden, was mit ihrer Eskorte geschehen war. »Dann werde ich wohl in Dienst gehen müssen.«
Er sah skeptisch aus, als er sich wieder dem Pfad zuwandte. Sie gingen schnelleren Schritts weiter. Deidre musste ihre Röcke noch weiter heben, um mit ihm Schritt halten zu können, und wieder wanderte sein Blick hinab. Kurz huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Genug um das köstliche Kribbeln auf ihrer Haut wieder zu entfachen.
Seine Stimme war jetzt sanfter: »Meine Mutter wird etwas finden. Als Zofe vielleicht.«
»Eine Zofe?« Deidre stieß beinah mit ihm zusammen, als sie um eine enge Kurve bogen und er unvermittelt stehen blieb. Sie hatten die Bäume hinter sich gelassen, und der Pfad ging in eine breitere Straße über, die einen steilen Hügel hinauf zu einer steinernen
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