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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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Miene verschloss sich. »Halt dich da heraus, Anavera. Solche Dinge gehen Männer an, nicht Frauen. Vater ist Gouverneur von Querétaro – soll er sich gefallen lassen, dass man seine Tochter behandelt, wie die Weißen Nahua-Mädchen seit Jahrhunderten behandelt haben?«
    »Nahua-Mädchen wie Chantico?«, höhnte Anavera. »Sind Mädchen wie Chantico also weniger wert als Gouverneurstöchter wie Josefa und ich? Ich kann nicht glauben, dass du so sprichst, Vicente.«
    »Und du weißt, dass ich es so nicht gemeint habe«, versetzte er. »Natürlich würde ich für Chantico dasselbe tun. Wir alle, unser ganzes Volk, muss darum kämpfen, dass unser Stolz und die Ehre unserer Frauen nicht länger ungestraft verletzt werden.«
    »Stolz«, sprach Anavera vor sich hin. »Ehre. Vermutlich hast du recht und Männer verstehen von diesen Dingen wirklich mehr als wir. Aber was ist mit Liebe, Vicente? Verstehen davon nicht Frauen das meiste? Tomás sagt, dieser Sohn von Sanchez Torrija ist der Teufel und schlimmer als sein Vater – aber wenn er Josefa liebt, kann er eigentlich kein Teufel sein, oder? Und wenn Josefa ihn liebt, hat sie dann nicht dasselbe Recht darauf, ihn zu heiraten, wie ich Tomás und du deine Chantico?«
    »Ich verbiete dir, noch einmal einen solchen Vergleich anzustellen«, fuhr Vicente sie an. »Damit beleidigst du Chantico, Tomás und auch dich und mich.«
    Sein Versuch, sich in seiner achtzehn Jahre alten Männlichkeit vor ihr aufzuplustern, hatte etwas Rührendes. Aber das Gespräch mit ihm brachte sie nicht weiter.
    »Jetzt vergiss das alles und freu dich auf deine Hochzeit«, sagte er versöhnlich. »Tomás ist ein Prachtkerl, und ich bin mächtig froh, ihn zum Schwager zu bekommen.«
    »Und wenn Josefa gar nicht zu meiner Hochzeit kommt?«, fragte Anavera.
    »Sie kommt«, versuchte Vicente sie zu beruhigen. »Wenn nicht freiwillig, dann muss Vater sie eben zwingen.«
    »Und wie soll er das machen? Sie an den Haaren in den Zug schleifen?«
    »Zuerst einmal sollte er ihr eine Tracht Prügel verabreichen«, grollte Vicente. »Wenn du mich fragst, hätte er das bei Josefa längst tun sollen, dann hätte sie uns vielleicht nicht alle in diese Lage gebracht.«
    »Und das findest du gerecht?«, entgegnete Anavera nachdenklich. »Wenn Vater dir verbieten würde, Chantico zu heiraten, könntest du einfach warten, bis du volljährig bist und es dann trotzdem tun. Josefa ist volljährig. Aber den Mann, den sie will, darf sie trotzdem nicht heiraten. Stattdessen bekommt sie eine Tracht Prügel – zwei Dutzend mit dem Stock, was hältst du davon? Das zumindest hat Onkel Xavier Elena angedroht, wenn sie ihren Liebsten noch einmal in die Arme nimmt. Josefa aber bekommt noch etwas obendrauf: Hat sie die Schläge hinter sich, dann schießen ihr Liebster und ihr Vater sich gegenseitig tot.«
    »Anavera, ich habe dir doch verboten …«
    »Vielleicht solltest du Vater raten, mir auch eine Tracht Prügel zu verabreichen«, fiel sie ihm ins Wort. »Schließlich dürft ihr Männer euch ja nicht gefallen lassen, dass eure Frauen den Aufstand proben und von euch Helden gar nicht verteidigt werden wollen.« Blind vor Zorn stand sie auf und stürmte aus der Kammer. Gleich darauf tat es ihr leid. Vicente war in vieler Hinsicht noch ein Kind, das um jeden Preis ein Mann sein wollte. Sie hätte ihn so nicht abfertigen dürfen. Aber das, was zwischen ihnen gesagt worden war, hatte sie zutiefst verwirrt, und am meisten das, was sie selbst gesagt hatte.
    Wie konnte sie fordern, ihre Schwester müsse die Erlaubnis erhalten, den teuflischen Sohn von Sanchez Torrija zu heiraten? Natürlich durfte sie ihn nie im Leben heiraten – und wie konnte Josefa überhaupt einen solchen Menschen lieben? Auf einmal vermisste sie die Schwester mit so viel wilder Heftigkeit, dass ihr das Herz weh tat. Warum bist du nicht hier, Josefa, wollte sie sie anschreien. Warum beantwortest du uns all die verdammten Fragen nicht selbst?
    Sie waren so verschieden, wie Schwestern nur sein konnten, sie hatten sich gezankt, gebalgt und an den Haaren gezogen. Aber sie hatten auch von klein auf ein Zimmer geteilt, nächtelang geschwatzt und gealbert und ihre tiefsten Geheimnisse ausgetauscht. Als kleines Mädchen hatte Anavera allabendlich zugesehen, wie Josefa sich die goldblonden Haare ausbürstete, und war vor Stolz fast geplatzt, weil dieses elfenhaft schöne Geschöpf ihre Schwester war. Keine der anderen, nicht einmal Elena, stand ihr so nah wie Josefa.

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