Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Jäh wurde Anavera bewusst, dass ihr die ganze Zeit, seit die Schwester sie mit Schweigen strafte, zumute gewesen war, als ob ein Teil von ihr fehlen würde. Dass Josefa einen zutiefst bösartigen Menschen, einen Feind ihrer Familie, liebte, war erschreckend. Aber noch erschreckender war, dass sie überhaupt jemanden liebte und Anavera nichts davon erzählt hatte.
Vicente hat recht, Josefa, dachte sie. Du solltest wirklich Prügel bekommen, denn es ist einfach schäbig, die Menschen, die dich lieben, anzuschweigen, weil sie einen Fehler gemacht haben. Mir tut leid, was ich damals angerichtet habe, als ich meine dumme Verlobung ausgerechnet an deinem Geburtstag feiern musste. Aber gibst du mir Gelegenheit, dich dafür um Verzeihung zu bitten? Machst du mir wenigstens Vorwürfe, auf die ich antworten und mich erklären könnte? Nichts von allem. Stattdessen schweigst du, was höchst bequem für dich ist, aber ich erlaube es dir nicht länger. Wenn du zu meiner Hochzeit nicht kommen magst, kann ich das verstehen, aber ich will es von dir erfahren, von niemandem sonst. Und wenn du dich in einen Mann verliebst, und sei er der gehörnte Bocksfuß in Person, dann will ich es auch von dir erfahren. Von dir allein.
Sie schob den Briefbogen, auf dem noch immer nichts als »Geliebter Tomás« stand, beiseite. Was sie zu tun hatte, wusste sie jetzt: Nicht mit der Mutter, nicht mit Vicente, sondern allein mit Tomás konnte sie über das, was sie bedrückte, sprechen. Aber zuvor würde sie alles, was sie bis eben nur gedacht hatte, an Josefa schreiben. »Ich bin Deine Schwester«, schrieb sie, »und wie Du weißt, bin ich nicht so leicht zu erschrecken. Wenn Du meine Hilfe brauchst, werde ich zu Dir halten, auch gegen die Männer, die sich aufblasen und mit Duellpistolen fuchteln. Aber Du musst mit mir sprechen. Bald acht Monate habe ich nicht mehr gehört, wie Du mich eine trottelige Pomeranze geschimpft hast. Es fehlt mir, Jo!«
Erst als der Brief in seinem Umschlag steckte, nahm sie sich den an Tomás wieder vor, und auf einmal konnte sie ihn ohne Unterbrechung fertigstellen.
»Geliebter Tomás. Als Erstes muss ich Dir schreiben, dass ich Dich liebe, weil Du ein so feiner und sanfter Mann bist. Weil Du nicht auf die Idee kämst, Familien ihr Zuhause wegzunehmen, Arbeiter mit der Peitsche zu schlagen, Gegner totzuschießen, ungehorsamen Mädchen Prügel anzudrohen oder sie an den Haaren auf Hochzeiten zu schleifen. Ich liebe Dich, weil Du Deinen Mut nicht beweisen musst, indem Du unser Leben aufs Spiel setzt, weil vor Dir niemand Angst hat und weil ich Dir alles sagen kann, was in mir vorgeht.
Und eben deshalb muss ich Dir jetzt dieses hier sagen, mein Tomás: Ich will, dass wir die Hochzeit verschieben. Ich weiß, wie sehr es Dich enttäuschen wird, und mich enttäuscht es auch, aber auf meiner Hochzeit mit Dir will ich tanzen und glücklich sein und an gar nichts denken als an Dich und mich.
Das kann ich jetzt nicht. Deshalb will ich, dass wir warten – bis Miguel wieder bei seiner Frau ist, bis mein Vater zurückkommen kann, bis sich irgendwie die Sache mit Josefa regelt und bis uns etwas einfällt, um dieses Tal, in dem die alten Götter träumen, von Felipe Sanchez Torrija zu befreien. Von einem anderen würde ich ein solches Opfer nicht verlangen. Aber von Dir tue ich es, weil ich weiß, dass Du mich verstehst. Ich liebe Dich, ich vermisse Dich, und ich bin stolz darauf, die Verlobte eines so feinen Mannes zu sein. Dein Armadillo.«
Ein Brief in die Hauptstadt benötigte für gewöhnlich drei Tage, und da Tomás sie nicht warten lassen würde, durfte sie in sechs Tagen mit seiner Antwort rechnen. Josefa würde sie etwas länger Zeit lassen, doch wenn sie in drei Wochen noch keinen Brief von ihr hatte, würde sie sich etwas Neues überlegen.
Am Morgen des sechsten Tages kam der Briefbote, aber er brachte ihr keine Antwort von Tomás. Stattdessen stand am Abend Tomás in Fleisch und Blut vor der Tür. Sein Atem ging so schnell, als wäre er nicht Eisenbahn gefahren, sondern gerannt, seine Augen glänzten, und ohne ein Wort der Begrüßung schloss er sie in die Arme. Von seiner Schläfe bis hinunter auf den Kiefer zog sich die Narbe des Peitschenhiebs. »Das eine sage ich dir«, raunte er mit erstickter Stimme an ihrem Ohr, »ich werde drei Tage lang alles tun, um dich zu überreden, mich wie geplant zu Ostern zu heiraten. Wenn du dann immer noch darauf beharrst, werden wir in Gottes Namen die Hochzeit verschieben,
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