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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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kulturlosen Wilden abstammen – und jetzt reisen europäische Wissenschaftler über das Weltmeer, um die Kultur der sogenannten Wilden zu untersuchen.«
    »Woher hast du denn diese Hefte?«, fragte Anavera und betrachtete die Zeichnung. Das Magazin war von der astronomischen Gesellschaft in Mexiko-Stadt herausgegeben worden.
    »Vater hat sie mir geschickt«, antwortete Vicente. »Er dachte, sie würden mich interessieren, weil in diesen Bauten eben astronomische Rätsel verborgen sind. So besteht die Pyramide aus vier Seiten mit je einundneunzig Stufen, zusammen dreihundertvierundsechzig. Rechnet man die Plattform dazu, erhält man exakt die Zahl der Tage, die die Erde für einen Umlauf der Sonne braucht. Man vermutet, dass die Maya in Yucatán den Himmel beobachtet und studiert haben, wie wir es erst heute tun. Sie sollen regelrechte Observatorien erbaut haben. Funde deuten darauf hin, dass sie aus dem Lauf der Sonne, des Mondes und der Planeten einen Kalender entwickelt haben, der präziser und weitreichender als der unsere ist.«
    Vicentes Leidenschaft für astronomische Forschungen war ansteckend, aber heute hatte Anavera dafür keinen Sinn. »Der Vater findet Zeit, um für dich einen Stapel astronomischer Magazine zu besorgen, aber der Mutter kann er keine fünf liebevollen Zeilen schreiben?«, fragte sie.
    Verständnislos sah Vicente sie an und zuckte schließlich mit den Schultern. Als eindeutig männliches Wesen vermochte er offenbar nicht zu erkennen, worin zwischen beidem der Zusammenhang bestand.
    Anavera ließ es auf sich beruhen und bemühte sich, ihm ihr Problem zu schildern. »Kannst du mir sagen, wie ich hier vergnügt herumspringen und Hochzeit halten soll?«, fragte sie. »Um mich herum findet sich kaum noch einer, der sich nicht vor dem nächsten Morgen fürchtet, Felipe Sanchez Torrija zerstört das Leben meiner Freunde, meine Schwester hat sich ausgerechnet in dessen Sohn verliebt, und meine Mutter weiß vor Sorgen weder ein noch aus. Und um all das soll ich mich nicht kümmern und mich auf meine Hochzeit freuen?«
    Vicente wischte die Zeitschriften beiseite und klopfte einladend auf die Dielen neben sich. Dankbar setzte Anavera sich zu ihm. »Ich kann dir nur sagen, was ich tun würde«, erklärte er.
    »Sag’s mir.«
    »Wenn es meine Hochzeit mit Chantico wäre, würde mich gewiss nichts und niemand auf der Welt davon abbringen, mich darauf zu freuen.«
    Chantico, Vicentes Liebste, war die Tochter einer Bauernfamilie, die ebenfalls von der Vertreibung bedroht war. Noch waren Sanchez Torrijas Rurales nicht bis auf ihre hochgelegene Milpa vorgedrungen, doch früher oder später würde man auch sie wie Ungeziefer aus ihrem Zuhause jagen. Das Mädchen war die beste Schülerin ihrer Mutter gewesen und hatte ein Stipendium für die Konventschule in Santiago de Querétaro bekommen, so dass ihr für die Zukunft immerhin Hoffnung blieb.
    »Und wenn Chantico sich nicht freuen würde«, fragte Anavera lauernd, »weil ihr Vater vor ihren Augen entwürdigt wird und ihre Mutter nicht weiß, wie sie die kleinen Geschwister füttern soll? Oder noch weiter gefragt: Was wäre, wenn Vater dir verbieten würde, Chantico zu heiraten, so wie Onkel Xavier bei Elena und Acalan?«
    Wie zuvor sah Vicente sie an, als bliebe ihm der Zusammenhang verborgen. »Was soll denn das dumme Gerede?«, fragte er. »Vater würde mir nie im Leben verbieten, das Mädchen, das ich liebe, zu einer ehrbaren Frau zu machen. Er selbst hat nichts anderes getan, oder?«
    Er hatte recht. Und Anavera fiel siedend heiß etwas ein. »Das gilt dann allerdings auch für den Sohn von Felipe Sanchez Torrija«, murmelte sie. »Vater wird Josefa nicht verbieten, ihn zu heiraten.«
    »Das ist etwas anderes!« Mit einem Schlag verschwand der träumerische, noch kindliche Zug aus Vicentes Gesicht. »Nie im Leben dürfte ein Mann der Familie Josefa erlauben, diesen Mann zu heiraten. Er hat sie in einen Skandal gezogen, und einer von uns wird ihn dafür zum Duell fordern müssen.«
    »Zum Duell? Hast du den Verstand verloren?«
    »Davon verstehst du nichts«, verwies sie ihr kleiner Bruder. »Aber darum musst du dich nicht sorgen. Um diese Angelegenheit kümmern sich die Männer. Der Vater, ich oder Tomás, der jetzt ja auch zur Familie gehört.«
    »Tomás fordert niemanden dazu heraus, sich gegenseitig totzuschießen!«, rief Anavera. »Außerdem ist er Maler und kann überhaupt nicht mit Schusswaffen umgehen – genauso wenig wie du.«
    Vicentes

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