Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
mit ihr um und führte sie die Treppe hinunter.
»Josefa!«, rief die Spitzmaus noch einmal. »Ich selbst habe dir auch etwas zu sagen, etwas wirklich Dringendes. Bitte hör mich nur einen Moment lang unter vier Augen an, ehe du dich ins Unglück stürzt!«
»Erzähl’s deinem Götzen!«, rief Josefa über seine Schulter, klammerte sich an Jaime fest und ging mit ihm weiter. Im Vorgarten blieb sie schwer atmend stehen. »Mein Liebster. Ach mein Liebster. Wie soll ich dir denn jemals danken?« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und wischte sich hastig die Wange trocken.
»Würdest du das deinem Vater ins Gesicht sagen?«, fragte Jaime.
»Was?«
»Dass er dir gestohlen bleiben kann. Dass du dich für ihn schämst und dass er keine Ehre hat.«
Sie zögerte.
»Ein neues Kunststück«, sagte er. »Du hast dich in diesem nicht übel geschlagen, aber wenn ich es satt bekomme, führst du mir dann das andere vor? Sagst du ihm vor allen Leuten ins Gesicht, dass du dich schämst, weil er dein Vater ist?«
Sie zögerte noch immer. Er befreite sich aus ihrem klammernden Griff und schob sie von sich weg. »Dein Vater, der deine Mutter mit einer schamlosen Kokotte betrügt und sich den Teufel darum schert, wie es dir geht – und dem willst du nicht ins Gesicht sagen, was du von ihm hältst? Erzählst du mir jetzt etwa, dass du einen solchen Mann liebst?«
Josefa hob den Kopf. »Ich sage ihm ins Gesicht, was immer du verlangst«, presste sie zwischen bebenden Lippen heraus. »Ich liebe dich, nicht ihn. Und er ist nicht mein Vater.«
23
D rei Frauen – ihre Mutter, Xochitl und Carmen – nähten, stickten und webten an Anaveras Hochzeitsausstattung. Es war Tradition, dass die älteren Frauen des Haushalts diese Arbeiten verrichteten und dass die jüngeren sich dazugesellten, mit dem Garnhalten und dem Einfädeln halfen und sich Lektionen über das Leben als Ehefrau anhörten. Tatsächlich kam Donata eigens dafür aus der Stadt. Soledad, ein Mädchen, um das Enrique anhalten wollte, fand sich ein, und Angela, eine Waise, die die Familie aufgezogen hatte, reiste aus Orizaba an. Elena setzte sich in den Kreis, um ihre Mutter friedlich zu stimmen, entfloh aber, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Abelinda blieb ganz fern. Und Anavera, um die sich all der Trubel drehte, entschuldigte sich ständig: Sie müsse Briefe an ihren Verlobten schreiben, erklärte sie, und die anderen lachten und ließen sie gehen.
»Geliebter Tomás« – dreimal hatte Anavera den Brief angefangen, und dreimal hatte sie ihn in ihrer Faust zerknüllt und war aufgesprungen, weil es anderes zu tun gab. Einmal hatte sie Elena beruhigt, die unter dem Fenster nach ihr pfiff. Das zweite Mal war sie hinüber in Miguels Anbau gelaufen und hatte Abelinda, die teilnahmslos auf ihrem Bett lag, in die Arme gezogen. »Bitte komm doch zu uns zurück«, hatte sie zu ihr gesagt. »Du fehlst uns. Wir haben dich alle so lieb, du bist ein Teil von unserer Familie. Es ist, als ob du uns immerfort wegstößt, wenn du sagst, du wärst für niemanden mehr etwas wert. Und was ist mit Miguel? Mit deinem Miguel, der noch immer gefangen ist und der eure Kinder genauso verloren hat wie du – soll er denn auch noch dich verlieren?«
Das dritte Mal war sie nur hinaus auf die Koppel zu Aztatl gegangen, um ihm einen der süßen Winteräpfel zwischen die samtigen Lippen zu schieben. »Es ist so schwer«, raunte sie ihm in sein gespitztes Ohr. »Verstehst wenigstens du mich? Die anderen geben sich alle Mühe der Welt, um mich glücklich zu machen. Sie hätten wenigstens verdient, dass ich glücklich bin. Aber wie kann ich denn glücklich sein, wenn die anderen es so ganz und gar nicht sind und auch keinen Grund dazu haben?«
Abelinda weinte um ihre Kinder, und ihr Mann, der Einzige, der ihren Schmerz hätte teilen können, durfte nicht bei ihr sein.
Carmen weinte um ihre Enkel und musste doch eine tapfere Miene aufsetzen, um ihrer Schwiegertochter ein wenig Halt zu geben. Vor allem aber durfte sie niemandem zeigen, welche Angst sie um ihren Sohn ausstand.
Elena weinte auch, obgleich sie sich Mühe gab, die Unerschütterliche zu spielen. Da Acalan aufgrund der Lage immer mutloser wurde, hatte sie sich ein Herz gefasst und selbst bei ihrem Vater vorgetastet. Ihr Vater, dessen verwöhntes jüngstes Kind sie war, hatte sie angeschrien. Er werde seiner Tochter im Leben nicht erlauben, einen Mann zu heiraten, der ihr keine Sicherheit bieten könne, und Sicherheit gebe es
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