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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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grausamen Prozedur von vorn.
    »Er will, dass wir fortgehen«, hatte Anavera zu Tomás gesagt. »Er will, dass wir unsere Sachen packen wie die Leute von den Milpas und El Manzanal verlassen.«
    »Aber das werden wir nicht tun«, hatte Tomás heiser vor Wut erwidert und sie an sich gedrückt. Er konnte nichts ausrichten, um ihr zu helfen, aber es erfüllte sie mit Wärme, dass er es sich mit so viel Leidenschaft wünschte. Dennoch beschlossen sie schweren Herzens, dass er zu Ostern zurück in die Hauptstadt fahren sollte. Er hatte auch dort Grund genug zur Sorge. Seine Mutter schrieb merkwürdige Briefe, von José Posada und anderen Freunden befürchtete er, dass sie verhaftet worden waren, und nicht zuletzt war da die immerwährende Angst um Miguel. »Sobald ich halbwegs weiß, dass die Welt noch steht, komme ich zurück«, versprach er ihr.
    »Das geht doch nicht, Tomás. Was ist mit deinem Studium?«
    »Nun, wenn wir geheiratet hätten …«
    »Wenn wir geheiratet hätten, hättest du auch weiterstudieren müssen«, beschied sie ihn mit einem Kuss. »Es ist schon in Ordnung so. Schließlich läuft uns die Zeit nicht davon, sondern wir haben noch ein ganzes Leben vor uns.«
    »Das stimmt. Aber kommt ihr hier zurecht?«
    Ein wenig bemüht lachte sie auf. »Wir sind ja keine hauchzarten Weibchen, die beim ersten Windstoß umfallen. Armadillos haben eine dicke Haut.«
    Er beugte sich zu ihr und küsste ihre Schulter. »Mir kommt deine Haut gar nicht dick vor, Armadillo. Du bist mein hauchzartes Mädchen, und kannst du mir sagen, warum mir zumute ist, als hätten wir kein ganzes Leben vor uns, sondern müssten auf diesem blöden Bahnhof Abschied für immer nehmen?«
    Sie konnte es ihm nicht sagen, aber ihr war genauso zumute. Etwas lief ihr den Rücken hinunter, und in der Morgenkälte zitterte sie. Verloren sie allmählich alle miteinander den Verstand? Sicher half es ihren Nerven nicht auf, dass sie seit Wochen kaum noch Schlaf fanden, sondern die Nächte angespannt und gejagt von Hirngespinsten verbrachten – sie selbst und Tomás nicht anders als die Mutter, die des Nachts wie eine Berglöwin über die Gänge tigerte. In der letzten Nacht war Anavera vor Übermüdung in einen fast ohnmächtigen Schlaf gefallen und hatte Tomás all die Dinge nicht mehr sagen können, für die es jetzt zu spät war.
    Noch einmal drückten sie einander fest. »Pass auf dich auf«, sagte Anavera. »Lass dich von niemandem reizen, und bring dich nicht in Gefahr. Da fällt mir ein, hat sich eigentlich je herausgestellt, wer dieser Geist des Pinsels war?«
    Sie sah, wie er kurz die Lippen aufeinanderpresste. »Der Geist des Pinsels ist verschwunden«, antwortete er dann merkwürdig steif. »Vermutlich war es irgendein Heißsporn, der etwas gut gemeint, aber nicht gut gemacht hat. Manche glauben auch, es sei Don Perfidio selbst gewesen, um den Liberalen etwas anzuhängen und den Científicos diesen Coup mit seiner Zeitung zu verkaufen …«
    »Scht«, machte Anavera und legte ihm zärtlich einen Finger auf die Lippen. »Don Porfirio, hörst du? Versprich mir, dass du das andere in der Öffentlichkeit nie mehr sagst.«
    Widerstrebend nickte er. »Es ist so ekelhaft, alles schlucken zu müssen und nicht einmal den Mund aufzutun.«
    Dann pfiff der Zug, und er musste laufen, um noch rechtzeitig aufzuspringen.
    Anavera lenkte das Fuhrwerk langsam und tief in Gedanken zurück. Auf El Manzanal, wo der Tag mit ganzer Kraft erwachte, empfing sie ein sonderbarer, geradezu idyllischer Frieden. Ehe zum Gedenken an Kreuzestod und Auferstehung des Herrn alle Arbeit vier Tage lang ruhen würde, summte der Rancho an diesem sonnigen Morgen noch einmal vor Geschäftigkeit. Die Vaqueros trieben die Rinder aus den Unterständen und ließen sie brüllend vor Lust ihrer Freiheit entgegenstampfen, Xavier brach mit einer Gruppe Arbeiter zum Waldrand auf, um Land für ein Feld abzuholzen, und Elena saß wie das brave Mädchen, das sie nie gewesen war, mit ihrer Mutter auf der Veranda und webte. Was war anders? Warum wirkte das Land so befreit?
    Sie ging in den Stall, um Aztatl für einen langen Ritt zu satteln, denn der junge Hengst brauchte Bewegung, und ihr Kopf brauchte Luft für einen Entschluss. Die drei Wochen, die sie Josefa für ihre Antwort Zeit gegeben hatte, waren lange verstrichen. Wenn sie ihr noch einmal schreiben wollte, würde sie es heute tun müssen, denn über die Feiertage wurde keine Post transportiert. Aber hatte es denn Sinn, las Josefa

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