Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
nicht, wie wir an unser Werkzeug kommen sollen, denn die Schlüssel für den Schuppen bewahrt immer er allein auf. Auch hat uns niemand Anweisung gegeben, was den Tag über zu tun ist. Das macht er immer am Morgen, niemand darf ohne seinen Befehl etwas tun. Die Vorarbeiter genießen den Tag und verspotten uns, weil wir uns um die Arbeit reißen. Aber Sie wissen doch, wie er ist, der Kommandant – wenn er kommt und die Arbeit ist nicht getan, muss einer von uns dran glauben.«
Anavera sah, wie das Kind sich ängstlich duckte, und schüttelte sich vor Wut. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie und schwang sich vom Pferd. »Ich komme mit Ihnen und sehe nach, was los ist.« Sie wollte es nicht, ihr Körper schien sich regelrecht dagegen zu sträuben, einen Fuß auf Sanchez Torrijas Land zu setzen, und die unerklärliche Furcht, die den ganzen Morgen über in ihrem Hinterkopf gelauert hatte, brach sich jetzt Bahn. Aber den Mann und den Jungen, die ihr in beschämender Dankbarkeit folgten, würde sie nicht ohne Hilfe lassen. Die beiden vertrauten ihr, als könnte sie Wunder wirken, weil sie die Tochter ihres Gouverneurs war.
Das zu einem Viertel fertige Haus in seinem Nest schattenspendender Bäume wirkte geradezu gespenstisch zwischen den Balken und Streben der erst begonnenen Flügel. So still lag es dort, dass Anavera die Erkenntnis durchzuckte: In diesem Haus ist kein Mensch. Jedenfalls keiner mit einer so lauten Präsenz wie Felipe Sanchez Torrija. Sie hatte vermutet, der Mann habe sich in seinen Räumen verschanzt und mache sich ein Vergnügen daraus, dem verstörten Arbeiter zuzusehen, wie ein Kind, das in ein Ameisennest sticht, um sich an der Angst der Tiere zu weiden. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie ihn wütend herausklopfen und anweisen würde, sich um seine Leute zu kümmern. Jetzt aber war sie sicher: In diesem Haus befand sich niemand, der lebte.
»Haben Sie jemanden aus dem Haus kommen sehen?«, fragte sie den Mann.
»Ich nicht«, erwiderte er, »aber ein paar von uns haben gesehen, wie im Morgengrauen die beiden Frauen, die er da drinnen hat, aus dem Haus geflüchtet sind.«
»Haben sie mit ihnen gesprochen?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Sie sind davongerannt. Wollten mit niemandem sprechen.«
Anavera klopfte an die frisch eingehängte schiefe Tür, weil ihr nichts einfiel, das sie sonst hätte tun können. Wie erwartet erfolgte keine Antwort. »Hat er kein Personal hier draußen?«, fragte sie in die Traube der Arbeiter, die sie umringte.
»Nur Pablo, seinen Diener«, erwiderte der Mann, der sie geholt hatte, und wies auf einen Mann in Livree, der an einem Holzstapel lehnte und rauchte. »Er geht abends heim nach Santa María de Cleofás und kommt am Morgen wieder.«
»Und heute Morgen ist er auch wiedergekommen, aber niemand hat ihn eingelassen?«
Mehrere Männer nickten.
»Aber keiner von euch hat versucht, die Tür zu öffnen und zu sehen, ob der Kommandant vielleicht krank ist?«
Schweigend schüttelten die Männer die Köpfe. Nie hatte Anavera deutlicher begriffen, wie tief Sanchez Torrija diese Menschen mit seiner Gewaltherrschaft eingeschüchtert hatte – so tief, dass sie nicht mehr wagten zu tun, was ihnen selbstverständlich war. Leicht drückte sie gegen die Tür, und diese gab sofort nach. Im selben Atemzug fiel ihr auf: Eine so schlampige Arbeit hätte Sanchez Torrija niemals durchgehen lassen. Die Tür war nicht frisch eingehängt, sondern aus den Angeln gerissen und notdürftig wieder darauf befestigt worden.
Mit bis zum Bersten klopfendem Herzen schob Anavera die Tür weiter auf, bis sie den Blick in die gekachelte Sala freigab. Flüchtig erfasste sie die in Kübeln aufgestellten Palmen und die elegant gepolsterten Sitzmöbel, dann schrie der Mann neben ihr auf und bekreuzigte sich. Gleich darauf sah Anavera den Toten. In Abelindas Zimmer waren sogar die Wände mit Blut bespritzt gewesen, hier aber gab es keinen einzigen Tropfen. Der Mann lag halb über den Boden ausgestreckt. Er war aus einem der zierlichen Sessel geglitten, und das Gesicht hing zur Seite gedreht auf dem Polster. Dem Gesicht aber war wenig Menschliches geblieben. Es war bläulich angeschwollen, und die fast schwarze Zunge hing zwischen den Lippen heraus. Breite blaurote Male entstellten den Hals. Der Mann war erwürgt worden.
Anavera schrie nicht. Ihr wurde nur kalt. Und ihr war zumute, als hätte sie es die ganze Zeit gewusst.
Sie hatte den Diener Pablo und zwei der Vorarbeiter gebeten,
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