Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
Vom Netzwerk:
überhaupt, was Anavera ihr schrieb? Die Kluft war offenbar viel tiefer, als sie sie eingeschätzt hatte. Auf ihr Drängen hatte Tomás erzählt, Josefa habe ihrem Vater in aller Öffentlichkeit ins Gesicht geworfen, sie schäme sich für ihn. »Welchen Grund kann irgendein Mensch haben, sich für meinen Vater zu schämen?«, hatte Anavera ihn ungläubig gefragt, doch Tomás hatte darauf wohl auch keine Antwort gewusst und nur mit den Schultern gezuckt.
    Apropos Tomás – war es richtig, dass sie nicht versucht hatte, ihn hierzuhalten? Er hatte so bedrückt gewirkt, von seiner üblichen flachsenden Zuversicht meilenweit entfernt. Nur wegen der verschobenen Hochzeit? Einmal, als sie ihn danach gefragt hatte, hatte er die Fäuste geballt und geantwortet: »Natürlich nicht. Die Welt geht ja wirklich nicht unter, wenn wir erst am Ende des Sommers heiraten. Aber ich komme einfach nicht gegen dieses verdammte Gefühl an, uns breche alles ringsum zusammen, seit diese Sanchez-Torrija-Teufel aufgetaucht sind. Sie haben die Macht, uns alles, was schön war, umzustoßen – und jetzt sogar noch unseren Hochzeitstermin.«
    Anavera lenkte Aztatl auf unbebautes Feld in der Senke, um Platz für einen ordentlichen Galopp zu haben. Gründlich in Schweiß reiten wollte sie sich, ehe all diese Gedanken sich in ihrem Kopf zu einem Knäuel verwirrten. Sie gab Aztatl das Maul frei, richtete sich in den Steigbügeln auf und jagte eine köstliche kleine Weile ohne Halt und Bürde dahin. Erst als sie den Hengst schließlich zügelte, weil sein Atem schwer ging, kehrten auch die Gedanken zurück.
    Sie war weiter geritten als geplant und befand sich bereits auf der Höhe von Felipe Sanchez Torrijas Besitz. Mit einem Mal wurde ihr auch klar, warum El Manzanal an diesem Morgen so friedlich gewirkt hatte, so anders als seit Wochen. Von Sanchez Torrijas Land war kein Baulärm herübergedrungen, keine gebrüllten Befehle, kein Peitschenschnalzen und vor allem kein Schmerzensschrei.
    War es möglich, dass ihrem Widersacher zumindest die Karwoche, die Leidenszeit des Herrn, heilig war?
    Anavera wendete ihr Pferd und ließ es im Schritt am langen Zügel gehen, damit es seine Muskeln entspannte und sich auf dem Weg trocken lief. Sie selbst entspannte sich nicht. Wie der Strang einer Steinschleuder fühlte sie sich, straff gezogen und bereit, jeden Augenblick nach vorn zu schießen. Wegen Josefa war sie einer Entscheidung keinen Schritt nähergekommen, und ihr Ritt hatte sie nicht wie sonst gelöst und befreit.
    Da sie Aztatl seinen Willen ließ, kam sie ein gutes Stück in westliche Richtung vom Weg ab und sah hinter einer Bodenwelle das Dach von Sanchez Torrijas Vorderhaus auftauchen. Es war gerade erst gedeckt worden, so dass nun ein kleiner Teil der imposanten Casa Principal halbwegs bewohnbar war. Obwohl es am Komfort, den der Kommandant gewohnt war, zweifellos noch an allen Ecken und Enden fehlte, war Sanchez Torrija schon eingezogen, und dem Gemunkel nach hatte er mehrere Geliebte bei sich. Um seinen Terror in der Umgegend zu verbreiten, nahm er die Unbequemlichkeit offenbar gern in Kauf.
    Weshalb ließ er heute nicht bauen, weshalb ließ er heute nicht peitschen? Wirklich aus Achtung vor den heiligen Tagen? Anavera sann noch darüber nach, als über die Bodenwelle zwei Gestalten auf sie zustürmten. Rasch erkannte sie, dass es sich um zwei von Sanchez Torrijas Arbeitern handelte, einen Mann und einen Jungen, der nicht älter als zehn Jahre sein konnte. Wie üblich trugen sie keine Schuhe und nichts als ihre Baumwollhosen am Leib. »Señorita, Doña Anavera!«, riefen sie zu ihr herüber. »Bitte warten!«
    Anavera nahm die Zügel auf und brachte ihr Pferd zum Stehen. Abgehetzt trafen Vater und Sohn bei ihr ein und blieben in sicherem Abstand vor dem großen spanischen Rappen stehen. Anavera kannte beide, sie gehörten zu einer der kürzlich vertriebenen Familien.
    »Bitte helfen Sie«, stieß der Mann heraus. »Wir wissen nicht, was tun.«
    »Was ist denn geschehen?«, fragte Anavera.
    »Wir sind zur Arbeit gekommen, Señorita. Aber el Comandante – er ist nicht gekommen! Wir sollen von sieben Uhr an Arbeit tun, aber wie, wenn er nicht da ist und schließt Schuppen auf?«
    »Sprechen Sie Nahuatl«, sagte Anavera. Vielen der Menschen aus dem Bergland versagte ihr Spanisch, sobald sie in Erregung gerieten.
    »Wir wissen nicht, wo Kommandant Sanchez Torrija ist«, leistete der Mann ihrer Aufforderung dankbar Folge. »Und ohne ihn wissen wir

Weitere Kostenlose Bücher