Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Zug zu fahren. Bitte gestatten Sie mir, am nächsten Bahnhof, an dem wir halten, auszusteigen und zurück in die Hauptstadt zu fahren. Mein Name ist Anavera Alvarez, Gouverneur Alvarez ist mein Vater. Selbstverständlich wird meine Familie dafür sorgen, dass der Eisenbahngesellschaft der Schaden erstattet wird.«
Der Mann musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle und wieder zurück. »Der nächste Halt ist Veracruz«, brummte er und zog eine Uhr aus seiner Westentasche. »Laut Fahrplan in vierzehn und einer Viertelstunde.« Dann wandte er sich an Sanchez Torrijas Sohn. »Von welchem Schaden spricht die Dame?«
Mit seinen verkrampften Schultermuskeln stand Sanchez Torrijas Sohn bei der Tür. »Vergessen Sie’s«, sagte er zu dem Steward, ehe er Anavera anbellte: »Wollen Sie etwas zu essen bestellen?«
Anavera schüttelte den Kopf.
»Bringen Sie ihr etwas Leichtes«, befahl er dem Mann, »Käse, eine kalte Suppe, Obst.« Mit einer unwirschen Drehung des Kopfes wies er ihn hinaus, und der Mann verschwand.
Sanchez Torrijas Sohn schob die beiden Riegel wieder vor.
»Aber ich habe doch keine Fahrkarte«, sprudelte es aus Anavera heraus.
Seine Schultern waren zu verkrampft, um sie zu zucken. Stattdessen zuckte er eine Braue. »Ich habe alle Plätze gekauft. Wenn ich mich fünfzehn Stunden lang in einen Zug setze, will ich nicht Volk neben mir haben, das schmatzt, schlürft und schnarcht oder in einem fort inhaltsleere Fragen stellt.«
Wider Willen musste Anavera ein Lachen unterdrücken. Seine Menschenverachtung war empörend, doch auf der Fahrt aus Querétaro hatten sie und ihre Mutter ein Abteil mit Leuten geteilt, die unentwegt die genannten Geräusche von sich gaben. Was aber bedeutete das, was er gerade gesagt hatte? Dieses wie ein kleiner Prunksaal ausgestattete Abteil mit der gepolsterten Tür zwischen den Sitzen gehörte samt und sonders ihm. Er hätte sie dem Kontrolleur ausliefern können, wie er jede Gelegenheit nutzte, um anderen Schaden zuzufügen. Doch er hatte es nicht getan. Kurz darauf kam der Steward, brachte ihm eine dunkle Flasche Wein und schob einen Servierwagen mit verschiedenen Silberschüsseln und Platten vor Anavera hin.
Ihr war schwach zumute. Zum ersten Mal, seit sie in diesem Abteil saß, wagte sie einen Blick zum Fenster, der ihr endlich klarmachte, wie vertrackt ihre Lage war. Von der Landschaft, die draußen vorbeiflog, war nichts mehr zu sehen. Unbarmherzig raste der Zug in die Schwärze der Nacht. Aus dieser würde er erst in vierzehn Stunden wieder auftauchen, und dann befände sie sich in Veracruz, meilenweit weg von den Menschen, die zu ihr gehörten. Allein mit einem Ungeheuer, das ihren Liebsten an den Galgen bringen und ihre Schwester dazu treiben wollte, ihr Leben wegzuwerfen.
In Gedanken versunken schenkte Sanchez Torrijas Sohn sich Wein in sein Glas und starrte in die schwarzrote Oberfläche. Jäh musste Anavera an ihren Vater denken, der Wein auf solche Weise betrachtete, ehe er davon trank.
Als würde er ihren Blick auf sich spüren, fuhr er zusammen und hob den Kopf. »Wollen Sie das Essen nicht? Dann lasse ich es zurückgehen, ehe es anfängt zu stinken.« Er griff nach der Klingelschnur.
»Bitte«, entfuhr es Anavera, »könnte ich ein Glas von dem Wein haben?« Wie konnte sie diesen Menschen auch noch um etwas bitten? Aber die Vorstellung, den dunklen Wein, den ihr Vater liebte, im Mund zu spüren, war einen Moment lang allzu verlockend gewesen.
Er tat etwas Merkwürdiges, geradezu Komisches. Stand auf, ging zu ihrem Servierwagen und griff nach einem der Wassergläser. Den Wein, der sich in seinem Glas befand, schüttete er in das Wasserglas um und wischte danach mit einer schweren Damastserviette das Weinglas peinlich sauber. Dann erst schenkte er es erneut halbvoll und stellte es ihr auf den Wagen.
»Danke«, sagte Anavera, weil sie es so gelernt hatte: Man bedankte sich immer. Bei jedem. »Es ist deine eigene Würde, die du bewahrst, wenn du sie anderen nicht absprichst«, hatte ihr Vater ihr beigebracht.
In seinen Augen blitzte Überraschung auf und verlosch.
Anavera trank von dem Wein, der nach Trost und sonnenwarmer Erde schmeckte, lehnte sich ins Polster zurück und bemerkte, wie unendlich erschöpft sie war. Sie brauchte jemanden, den sie um Rat fragen konnte, aber niemand war da. Wie um alles in der Welt war sie in diese Lage geraten, in einen Nachtzug nach Veracruz – Auge in Auge mit ihrer aller Feind? Mit Sanchez Torrijas Sohn. Mit Tomás’
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