Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
fest, als wäre das von irgendeinem Belang. Vermutlich waren diese wirren Gedanken eine Nachwirkung des Schreckens. Noch verrückter war, dass sie fand, er wirke genauso erschüttert und erschöpft, wie sie sich fühlte.
»Sie haben versucht mich zu töten«, sagte sie noch einmal, vielleicht, um selbst zu begreifen, was ihr geschehen war. »Ich kann Sie dem Zugaufseher melden, ich kann ihn auffordern, Sie am nächsten Bahnhof der Polizei zu übergeben.«
»Sehr glaubwürdig.« Seine Stimme klang rauh. »Ein zerrupftes Barbaren-Balg ohne Fahrkarte beschuldigt den Herrn des Sanchez-Torrija-Vermögens, sie behelligt zu haben.«
»Ich habe Zeugen.«
»Aha, also Zeugen haben Sie.« Josefa hatte behauptet, er sei der schönste Mann der Welt, doch sein Lächeln war abgrundtief hässlich. »Falls es Ihnen entgangen sein sollte, Sie befinden sich hier in der ersten Klasse, nicht im Viehwagen, in dem Sie sonst zu reisen pflegen und in den man Sie auch verfrachten wird, sobald man entdeckt, dass Sie für diese Reise nicht bezahlt haben. Hier findet sich zweifellos niemand, der Ihrem hysterischen Geschwätz Gehör schenken wird.«
»Ich bin nicht hysterisch!« Anavera sprang auf. Mit dem Zorn kehrte auch ihre Kraft zurück. »Ich bin kein Barbaren-Balg, und wir reisen in keinem Viehwagen, auch wenn wir nicht so verzärtelt sind, dass wir auf Reisen vergoldete Spiegelchen und Samtpolster brauchen.«
»Sie sind kein Barbaren-Balg?« Er hob eine Braue, was sie irritierte, weil ihr Vater es genauso machte. »Sagen Sie bloß, Sie hat der arme Hahnrei auch nicht gezeugt? Immerhin sehen Sie ihm aber ähnlich, so dass es sich leichter als bei der grünäugigen Baronin vertuschen lässt.« Mit erhobener Hand schoss Anavera auf ihn zu, doch ehe sie zuschlagen konnte, richtete er sich in voller Größe vor ihr auf und packte ihre Gelenke. Seine Hände in Handschuhen waren wie Eisenklauen, und vor Schmerz entfuhr ihr ein Laut. »Wenn Sie noch einmal versuchen sollten, mich zu schlagen, können Sie nach Ihren Zeugen schreien. Dann bringe ich Sie um.«
Brüsk ließ er ihre Hände los. So dicht stand sie vor ihm, dass sie seinen Atem spürte und seinen Duft wahrnahm. Was in seinen Augen flackerte, mochte tatsächlich Mordlust sein. Anavera rauschte das Blut in den Ohren, aber sie musste ihm zeigen, dass sie keine Angst vor ihm hatte. Sie versuchte daran zu denken, wie sie als Kind ihrem Vater bewiesen hatte, dass sie ein Pferd reiten konnte, das er für zu gefährlich hielt. Sosehr sie im Inneren zitterte, verlangte sie sich Ruhe ab wie am Zügel eines scheuenden Hengstes. Wenn sie es jetzt nicht wagte, war es ihm gelungen, sie einzuschüchtern, und sie war verloren wie ein abgeworfener Reiter, der sofort wieder aufstieg oder nie. Sie hatte hier einen Sieg zu erringen – für Josefa, für ihren Vater und für Tomás.
Im Bruchteil eines Herzschlags glaubte sie wahrzunehmen, wie er erstarrte, wie die starken Muskeln seiner Schultern sich wiederum verkrampften. Den Augenblick nutzte sie, hob die Hand und schlug ihn über die Wange. Dann drehte sie sich um und ging ohne Eile zurück an ihren Platz.
Diesmal hatte ihr Vater recht, es bekam einem Menschen übel, einen anderen zu schlagen, auch wenn der Schlag dieses Mal kaum der Rede wert gewesen war. Statt ihn anzusehen, starrte sie auf ihre Hände im Schoß. Das Seltsamste war, sie hatte so viel Angst vor ihm gehabt, und jetzt hatte sie überhaupt keine mehr. Selbst als mehrere Geräusche laut wurden, blieb sie unbewegt in ihrem Polstersessel sitzen, blickte nur auf und sah, dass Sanchez Torrijas Sohn sich erhoben hatte und die Abteiltür entriegelte. Einer der uniformierten Stewards, die in den Zügen mitfuhren und vermutlich auch Fahrkarten kontrollierten, steckte den Kopf in den Türspalt. »Haben Sie alles zur Zufriedenheit vorgefunden, Señor? Wünschen Sie eine Reservierung für den Speisewagen, oder soll im Abteil serviert werden?«
»Bringen Sie mir eine Flasche von dem Wein, den mein Bote deponiert hat«, erwiderte Sanchez Torrijas Sohn müde. »Ansonsten nur eine Karaffe Wasser und Kaffee. Was die Dame wünscht, fragen Sie sie selbst.«
Anavera fuhr zusammen. Würde man sie jetzt, wie Sanchez Torrijas Sohn behauptet hatte, aus dem Abteil zerren und in einen Viehwagen werfen? So oder so musste sie sich dem, was sie verzapft hatte, stellen. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte sie und stand auf. »Ich weiß, es klingt nicht sehr glaubhaft, aber ich hatte nicht vor, mit diesem
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