Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
in einem Zug fährt, Mängel in meiner Erziehung vorwerfen lassen? Das sagen Sie mir allen Ernstes ins Gesicht?«
»Wohin denn sonst? Außerdem habe ich Sie nicht angefallen. Sie zu berühren hätte mich geekelt. Ich habe Sie lediglich aufgefordert, Ihren Verpflichtungen nachzukommen, wie ein Ehrenmann es täte.«
»Und ausgerechnet Sie verstehen etwas vom Verhalten von Ehrenmännern?«
»In der Tat«, erwiderte Anavera. »Ich bin von einem aufgezogen worden.«
Höhnisch verzog er den Mund. »Ach, Sie sprechen von unserem Lieblingsbarbaren, von dem kleinen indianischen Schmutzfinken, der sich an adligen Töchtern vergreift, weil er seinen Hosenlatz nicht geschlossen halten kann. Da, wo ich herkomme, kommen wir derlei Ehrenmännern mit einem Riemen aus Hartleder bei.«
Sie hatte gewusst, dass er es sein musste, der die abscheulichen Gerüchte gestreut hatte, sie hatte gewusst, dass er der Teufel in Person war. Es hätte nichts geben dürfen, das sie an diesem Mann noch aus der Fassung brachte. Dass aber jemand es wagte, in solchen Worten von ihrem Vater zu sprechen, trieb ihr Tränen des Zorns in die Augen. Ihr blieb überhaupt nichts anderes zu tun, und dass sie in einem Zug voller Menschen standen, spielte ebenso wenig eine Rolle wie das, was ihr Vater sie über das Schlagen von Menschen gelehrt hatte. Sie holte aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, die ihm den Kopf zur Seite schleuderte.
Ihr Vater hatte gesagt, es bekomme einem Menschen übel, einen anderen zu schlagen, aber damit hatte er unrecht. Es tat unglaublich gut. So gut, dass sie die schmerzende Hand hob, um diesem Widerling dieselbe Medizin gleich noch einmal zu verpassen. Eine für jeden von ihnen, auch wenn Ohrfeigen für alles, was er verbrochen hatte, tausendmal zu mild waren – eine für Josefa und eine für den Vater, eine für Tomás, für den armen Miguel und für sie selbst.
Im nächsten Augenblick hatte sie seine Hände um den Hals. Dicht vor den ihren flackerten seine Augen in völlig maßloser Wut. Anavera wollte schreien, doch ihre Stimme erstickte, als seine entsetzlich starken Daumen sich auf ihre Kehle drückten. Er bringt mich um, gellte es durch ihren Kopf. Er ist von Sinnen, er presst mir das Leben aus! Ihr wurde schwarz vor Augen. Gleich darauf konnte sie wieder atmen, beugte sich vornüber und rang keuchend nach Luft. Seine Hände hatten sie losgelassen. Sie taumelte zurück und verlor das Gleichgewicht.
Erst als er nach ihr griff, um sie aufzufangen, wurde ihr bewusst, dass er die ganze Zeit über seine Handschuhe nicht ausgezogen hatte. »Verdammt«, fluchte er leise zwischen den Zähnen, »können Sie nicht auf Ihren Füßen stehen?«
Anavera, die in seinen Händen vor Entsetzen schwankte, schüttelte den Kopf.
»Das habe ich befürchtet«, knurrte er. »Kommen Sie.«
Sie wollte sich gegen seine Hände, die ihr Angst machten, wehren, doch ihr fehlte die Kraft. Während er sie über den Gang manövrierte, bemerkte sie, dass sich in den Türen der Abteile die neugierigen Gesichter der Reisenden drängten. Das Klatschen der Ohrfeige hatte ihnen zweifellos verraten, dass sie hier draußen ein pikantes Schauspiel versäumten. Hatte er sie deshalb losgelassen? Weil Zeugen kamen und ihm zusahen, wie er eine Frau erwürgte? »Nicht so grob, chica!«, rief ihr ein junger, studentisch gekleideter Mann hinterher. »Mit zarten Küssen zähmt man uns, nicht mit harten Hieben.« Grölendes Gelächter folgte.
Sanchez Torrijas Sohn zog die Tür eines Abteils auf und stieß Anavera hinein. Gott sei Dank waren alle Sitze leer. Er warf die Tür wieder zu und schob zwei Riegel vor. Anavera ließ sich in eins der dicken samtweichen Polster fallen und gab sich der Schwäche hin, bis ihr Atem sich beruhigt hatte und der Schwindel nachließ.
Dann setzte sie sich auf und betastete noch immer fassungslos ihre Kehle. Sie schmerzte nicht mehr und erschien ihr unverletzt. Felipe Sanchez Torrija musste so gestorben sein, durchfuhr es sie. Einer der zahllosen Menschen, die er gequält und gedemütigt hatte, hatte die Kontrolle über sich verloren, den Hals seines Peinigers gepackt und erst losgelassen, als es zu spät war. Von Sanchez Torrijas Sohn kam kein Laut. Sie sah, dass er sich ihr gegenüber in den am weitesten entfernten Winkel gesetzt hatte.
»Sie haben versucht mich zu töten!«, fuhr sie ihn an.
Er sagte nichts, sondern starrte sie nur mit seinen flackernden Augen an. Die Augen sind zu hell für das Gesicht, stellte sie
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