Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
explodierte donnernd eine Judasfigur. »Liebster, ich wollte nichts sagen, es tut mir leid …«
Schallend lachte er auf und brachte sie zum Schweigen. »Du wolltest nichts sagen? Dass der kleine klecksende Verehrer der Geist des Pinsels ist, wolltest du mir nicht sagen, und dir tut leid, dass er dafür jetzt nach Yucatán kommt und unter der Peitsche leiden lernen muss wie der Heiland am Karfreitag? Arme, kleine Josefa Alvarez. So versessen warst du darauf, deine Kunststücke vorzuführen, und am Ende hast du nicht nur dich selbst, sondern deine ganze Schar von traurigen Clowns mit deinen Messern beworfen.«
Er zog den Schlag auf und stieß sie förmlich in die Kutsche. Noch ehe sie sich auf den Sitz gerappelt hatte, winkte er den Kutscher heran und wollte sich zum Gehen wenden. Zitternd, weinend und würgend schlang Josefa die Arme um ihre Knie. Erst als vor der Tür des Clubhauses ein Licht aufflammte, wurde ihr bewusst, dass es völlig dunkel geworden war. »Señor Sanchez Torrija?«, rief eine Stimme durch die Nacht. Dann klopften eilige Schritte übers Pflaster. »Don Jaime Sanchez Torrija?«
»Was gibt es denn noch?«, fragte Jaime und blieb widerwillig vor dem Hausdiener stehen.
Der Mann verbeugte sich dreimal tief und schlug über seiner Brust das Kreuz. »Mein Beileid, Señor, mein zutiefst empfundenes Beileid. Es kam ein dringendes Telegramm aus Querétaro. Schlechte Nachrichten, Señor, noch dazu ausgerechnet am Karfreitag. Gott, der Herr, erbarme sich der armen Seele – Ihr Herr Vater, der Comandante Felipe Sanchez Torrija, ist auf tragische Weise ums Leben gekommen.«
Vierter Teil
Auf der Reise
von Querétaro nach Mexiko-Stadt,
von Mexiko-Stadt nach Yucatán
Mai 1889
»Wie ein solcher Strom, vor aller Welt unerkannt,
Wie ein solcher Strom, dessen eingekerkerte Wellen
Von dichter Dunkelheit umgeben rollen – so seid ihr,
O dunkle, schweigsame Ströme meiner Seele.
Wer hätte je den Kurs gekannt, den eure Wasser einschlagen?«
MANUEL GUTIÉRREZ NÁJERA
28
A ls der Zug sich mit einem heftigen Rucken in Bewegung setzte, rief Anavera »Halt!« und stürzte ans Fenster. Erst langsam, dann immer schneller entschwand die gläserne Bahnhofshalle mit den winkenden Menschen. Anavera war so verblüfft, dass ihr ein völlig grundloses Lachen entfuhr. Wie war das möglich, wie konnte dieser Zug einfach mit ihr an Bord losrollen? Sie war doch nur eingestiegen, um dem Mann zu zeigen, dass sie vor nichts zurückschreckte – um ihn von der Reise abzuhalten, nicht um mit ihm zu fahren.
Sie drehte sich um und sah ihn hinter sich stehen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich dieselbe Verblüffung, die vermutlich in ihrem zu lesen war, und auch ihm entfuhr ein schnaubendes, verrücktes Lachen.
»Was tun wir jetzt?«, platzte Anavera heraus. Bis eben hatte sie auf diesen Mann eingeschrien und hätte ihm alles Böse der Welt zufügen wollen, aber jetzt schien er der Einzige, der ihr helfen konnte.
»Was Sie tun, weiß ich nicht, und ich lege auch keinen Wert darauf, es von Ihnen zu hören«, erwiderte er. »Ich jedenfalls fahre nach Veracruz.«
»Nach Veracruz?« Sooft ihr Vater den Namen dieser Stadt aussprach, wurde er zum Zauberwort. Er war dort aufgewachsen, war dort ihrer Mutter begegnet und hatte sie inmitten der vom Krieg zerrissenen Stadt geliebt. »Aber ich dachte, Sie fahren nach Yucatán!«
»Wie töricht sind Sie eigentlich?« Der Mann stöhnte. »Glauben Sie wirklich, man könnte in diesem verfluchten Land in einen einzigen Zug steigen und am anderen Ende behaglich wieder aussteigen – selbst wenn das andere Ende in einem Höllenreich voller Riesenechsen, wucherndem Dschungel und abergläubischen Barbaren liegt?«
»Wenn ich töricht bin, tut es mir leid«, versetzte Anavera. »Sie allerdings sind unverschämt, was mir an Ihrer Stelle noch weit mehr leidtäte.«
Er sah sie an, als hätte er nicht richtig verstanden. Dann schürzte er die Lippen. »Und was würde ein Mann, der nicht unverschämt wäre, Ihrer Ansicht nach in meiner Lage tun?«
»So schlecht erzogen können Sie gar nicht sein, dass Sie das nicht selbst wissen«, schoss sie zurück.
Verwundert beobachtete Anavera, was mit seinen Schultern geschah. Unter dem schwarzen Seidenstoff seines Rocks wölbten sich die Muskeln eisenhart hervor. Seine Wange zuckte, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Und Sie meinen, ich muss mir von einer Indio-Göre, die mich auf einem Bahnhof angefallen hat und jetzt als blinder Passagier
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