Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
Vom Netzwerk:
Henker. Mit dem Mann, den ihre Schwester liebte.

29
    E s hatte zwei Wochen gedauert, ehe alles so weit geordnet war, dass Anavera und ihre Mutter die Reise in die Hauptstadt antreten konnten. Die Rurales versuchten die Arbeiter auf Sanchez Torrijas Besitz, aber auch die Bewohner von El Manzanal mit ihren Befragungen zu tyrannisieren, doch jetzt, da Sanchez Torrija sie nicht mehr aufstachelte, wurden die Mutter und Xavier mit ihnen fertig. Ohnehin erfolgte kurz darauf telegraphisch die Anweisung des Sohnes, über den Fall seines Vaters solle in der Hauptstadt entschieden werden. Von jenem Sohn hatte Tomás behauptet, er sei um vieles grausamer als sein Vater: »Felipe Sanchez Torrija ist ein menschenverachtender Satan. Jaime Sanchez Torrija ist ein menschenverachtender Satan mit Methode.«
    Jetzt aber war Felipe Sanchez Torrija tot, und auch wenn das Land und seine Menschen in tiefen Zügen aufzuatmen schienen, blieb die Tatsache bestehen, dass jemand ihn getötet haben musste. »Señor Sanchez Torrija wird sich gedulden müssen«, sagte die Mutter, der sich die Sorge inzwischen tief ins Gesicht gegraben hatte. »Auch wenn er tot ist. Dieses eine Mal geht unsere Familie vor.«
    Sie ließen den Rancho in der Obhut von Xavier und den Frauen zurück und brachen endlich auf. Als sie im Morgengrauen das Haus verließen, kam Abelinda im Morgenrock hinausgerannt. Es war das erste Mal, dass sie seit dem Tod ihrer Kinder ihre Wohnung verließ. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst.
    »Wenn du Miguel besuchen kannst«, flüsterte sie Anavera zu, »bitte sag ihm, dass ich ihn liebe und dass es mir unendlich leidtut. Ich wünschte, ich hätte die Kraft, ihn freizugeben für eine Frau, die ihm Kinder schenken kann.«
    Anavera war so erschüttert gewesen, dass ihr nicht einmal eine Erwiderung eingefallen war.
    Sie und die Mutter waren nicht in der ersten Klasse gefahren, sondern in der vollbesetzten zweiten, und mussten auf den Gang, sooft sie allein miteinander reden wollten.
    »Ich wünschte, ich hätte dich daheim lassen können«, sagte die Mutter. »In Sicherheit. So wie Vicente.«
    »Ich bin drei Jahre älter als Vicente«, entgegnete Anavera. »Und ihn kannst du auch nicht mehr lange irgendwo lassen, wo er nicht sein will. Ich möchte Josefa sehen, Mamita, ich möchte zumindest versuchen mit ihr zu sprechen. Und ich habe das Gefühl, dass Tomás mich braucht, so wie du das Gefühl hast, dass Vater dich braucht. Hättet ihr Kinder gewollt, die gehorsam auf eure Erlaubnis warten, hättet ihr uns strenger erziehen müssen. Vermutlich wünschst du dir das manchmal.«
    »Nein«, erwiderte die Mutter und umarmte sie. »Ich habe Angst um dich, weil mir die Hauptstadt gerade so geheuer erscheint wie eine Katze, die über mein Grab läuft. Und ich habe entsetzliche Angst um Josefa, aber wenn ich auf etwas in meinem Leben stolz bin, dann darauf, wie wir euch erzogen haben. Oder auch darauf, wie ihr uns erzogen habt. Genau weiß ich es nicht, nur, dass es schön war.«
    »Es ist immer noch schön«, sagte Anavera und betete heimlich, dass sie damit recht hatte.
    Die Beklommenheit wich, als sie in den Bahnhof von Mexiko-Stadt einfuhren und Anavera Onkel Stefan am Gleis stehen sah. Zwar wunderte sie sich, wo der Vater und Tomás steckten, doch den Vetter ihrer Mutter, der immer wirkte, als würde er sich gern vor dem Leben verkriechen, mochte sie schrecklich gern. So schüchtern, wie er ihnen zuwinkte, schien es, als wäre die Welt noch heil. Gleich darauf, als sie mit den Koffern auf dem Bahnsteig standen, zerbrach sie.
    »Ich weiß, ihr seid gerade erst angekommen«, druckste Stefan nach einer verhaltenen Begrüßung herum, »aber es ist wirklich dringend, dass ich so schnell wie möglich mit dir spreche, Kathi.«
    »Und warum sprichst du dann nicht mit mir?«, fragte die Mutter und boxte ihn in die Rippen. Es war der letzte heitere Satz, der ihr über die Lippen kam.
    »Es wäre gut, wenn wir allein … ich meine, wenn Anavera vielleicht …« Ehe er ausgesprochen hatte, unterbrach er sich: »Außerdem würde ich gern rasch von diesem Bahnhof runter. Martina wollte auch kommen, und ich würde lieber erst mit dir sprechen, bevor du sie triffst.«
    »Aber wir können doch nicht ohne Benito gehen«, rief die Mutter, als er mit ihren Koffern losziehen wollte. »Ich habe ihm unsere Ankunftszeit telegraphiert, er ist bestimmt gleich hier.«
    Für Stefans Flucht war es ohnehin zu spät. »Kaaathi! Anaveriiita!«, tönte es über den

Weitere Kostenlose Bücher