Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Bahnhof, und durch die Menschenmenge drängelte Martina auf sie zu, ihren breitkrempigen Hut in der Hand, um zu winken. Gleich darauf riss sie Anavera und die Mutter in die Arme und drückte sie, dass Anavera die Rippen knackten. »Es ist so gut, euch zu sehen«, sagte sie. »Auch wenn der Anlass der denkbar scheußlichste ist, den man sich vorstellen kann.« Über die Schulter der Mutter warf sie Stefan einen Blick zu. »Wolltest du mir entwischen, oder warum stehst du mit den Koffern herum?«
»Ja, das wollte ich«, erwiderte Stefan ehrlich.
»Und was soll das nützen?«, fauchte Martina und ließ Anavera und die Mutter los. »Meinst du, dadurch, dass wir es vor uns herschieben, wird für Kathi irgendetwas leichter?«
»Martina, wir wissen doch gar nicht …«
»Und ob wir wissen!«, fuhr Martina ihn an. »Soll Kathi es von den Klatschbasen dieses Hexenkessels erfahren, weil ihre Freunde zu feige sind, es ihr zu sagen?«
»Wenn ihr euch weiterstreiten wollt, statt mir zu erzählen, was eigentlich los ist, dann tut das«, mischte die Mutter sich ein. Bleich war sie schon seit Wochen, jetzt aber hatte ihr Gesicht jede Farbe verloren. »Ich warte in der Zwischenzeit auf Benito, und dann würde ich gern irgendwo essen gehen. Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.«
»Dass Benito sich hierherwagt, bezweifle ich«, versetzte Martina mit kalter, fremder Stimme. »Und falls er doch kommen sollte, gehe ich.«
»Martina, ich bitte dich«, bemühte sich der arme Stefan um Schlichtung. »Wir können doch Benito nicht schneiden, wir müssen über das alles reden …«
»Ich kann ihn schneiden, bis er im Grab liegt«, hackte Martina ihm ins Wort. »Was du kannst, musst du selbst wissen – ob du zu deiner Base hältst, die nichtsahnend Haus und Hof gehütet hat, oder zu dem Mann, der sie schamlos mit einem Mädchen betrügt, das seine Tochter sein könnte.«
»Komm doch wenigstens weg von diesen Menschenmassen«, murmelte Stefan, der purpurrot angelaufen war.
»Warum sollte ich?«, konterte Martina. »Es weiß doch ohnehin die ganze Stadt.«
»Ruhe!«, schnitt die Stimme der Mutter durch das Wirrwarr von Geräuschen. Sie trat Martina gegenüber und stemmte die Hände in die Seiten. »Ich verlange, dass du mir auf der Stelle sagst, was mit meinem Mann ist«, erklärte sie und sah so totenbleich, wie sie war, der anderen ins Gesicht. »Keine Beschimpfungen, keine Verleumdungen, nur das, was meinem Mann hier geschehen ist.«
»Nichts«, erwiderte Martina geradezu höhnisch. »Jedenfalls nicht viel angesichts der Ungeheuerlichkeit seiner Tat. Alle Welt hat erwartet, dass der Conde ihn fordert, dass die Stadt ihn ächtet und dass Don Perfidio ihn fallenlässt, aber wie es aussieht, kommt er mit einem Klaps auf die Finger davon …«
»Martina!«
Martina senkte den Blick zu Boden. »Er hat ein Verhältnis mit der fünfundzwanzigjährigen Tochter des Conde del Valle de Orizaba. Nicht erst seit gestern, schon mindestens seit dem letzten Sommer. O Kathi, Süße, es tut mir so leid. Wenn du willst, nehme ich ihn mir vor. Ich verpasse ihm die Prügel seines Lebens, ich reiße ihm jedes Haar einzeln aus – ach, ich würde alles tun, wenn es dir nur etwas helfen würde.«
»Du tust gar nichts«, sagte die Mutter, »hast du verstanden? Du tust nichts mit meinem Mann. Ist jetzt vielleicht einer von euch so freundlich, mir zu sagen, wo ich ihn finde?«
Sie sah von einem zum anderen. Stefan zuckte mit den Schultern, und Martina tat es ihm gleich. »Er erscheint zu seinen Sitzungen und treibt sich wie üblich mit Don Perfidio herum, aber wohin er danach geht, weiß keiner von uns. Zu seiner Geliebten wohl. Obwohl die Geliebte angeblich ja bei dir in Querétaro auf Erholungsreise ist.«
Sie lachte schrill auf, doch die Mutter schien gar nicht hinzuhören. »Nun gut«, sagte sie, »dann gehe ich ihn eben suchen. Seine Wirtin Doña Consuelo wird mir hoffentlich weiterhelfen. Stefan, kannst du Anavera und unser Gepäck mit zu euch nehmen? Und kann einer von euch Josefa wissen lassen, dass wir da sind?«
»Das mache ich«, rief Anavera schnell. »Das mit Josefa überlass mir.«
»Du willst doch wohl diesem Lumpen nicht nachlaufen«, protestierte Martina.
»Dieser Lump ist mein Mann«, erwiderte die Mutter. »Er war mein Leben lang gut zu mir, und ich finde, damit hat er sich zumindest das Recht verdient, sich zu verteidigen. Außerdem ist es sehr leicht, einen Mann zu lieben, der gut zu dir ist. Aber wie sehr du ihn liebst,
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