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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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bei seinen Verwandten nicht willkommen gewesen. In den Augen des adelsstolzen Großvaters war die Tochter eine Mesalliance eingegangen, und als der Sohn aus dieser Ehe ihm zur Erziehung gesandt wurde, hatte er es ihm zu spüren gegeben. Sechs Jahre – so alt war ihr Vater gewesen, als seine Mutter ihn und seinen Bruder Fremden in den Dienst gab, weil sie ihre Söhne anders nicht durchgebracht hätte. Anavera konnte sich unmöglich vorstellen, im Alter von sechs Jahren aus der Geborgenheit ihres Heims herausgerissen und in die Obhut von Leuten gegeben zu werden, die einen nicht als Kind, sondern als Feind betrachteten. Als ein Geschöpf, das man beugen und erniedrigen musste, damit es einem nicht über den Kopf wuchs.
    Gern hätte sie sich entschuldigt, denn sie hatte nicht die Absicht gehabt, an eine Wunde zu rühren, doch ihr war klar, dass sie es damit noch verschlimmert hätte. Instinktiv streckte sie die Hand aus, um seine zu berühren, dann fiel ihr ein, wie sehr er Berührungen hasste. »Wollen wir versuchen zu schlafen?«, fragte sie sacht. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, lege ich mich hier auf den Boden.«
    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, lege ich mich auf den Boden«, sagte er. Seine Stimme klang müde und traurig.
    »Sind Sie sich sicher?«
    »Wenn ich mir nicht sicher wäre, würde ich keine solchen Vorschläge machen. Ich warte vor der Tür, bis Sie fertig sind. Blasen Sie die Kerze aus. Ich brauche kein Licht.« Abrupt drehte er sich um und verließ den Raum. Dass er zurückkam, hörte sie nicht mehr, denn sobald sie sich, nachdem sie gewaschen war, niederlegte, schlief sie ein.
    Als sie anderntags aufwachte, lag er bäuchlings auf den Steinfliesen, in Hemd und Hosen, ohne Kragen und mit schlafverwirrtem Haar. Es war, als ob seine Schutzlosigkeit, der entblößte Nacken, von der Magie der Nacht noch etwas bewahrte. Doch jener Rest verflog, sobald er erwachte.

    Sie mussten zum Bahnhof rennen, weil ihr Wagen in den engen Gassen im Verkehr stecken blieb. In der schwülen Hitze kostete jeder Atemzug Kraft, und Sanchez Torrijas Sohn beschimpfte die Stadt und das Leben, weil er fürchtete, einen weiteren Zug zu verpassen. Er würde ihn verpassen, schwor sich Anavera, er würde mit ihr zurückfahren. Dass es unmöglich war, ihn zur Räson zu bringen, glaubte sie längst nicht mehr. Er war kein Teufel, nur ein schwieriger, selbstsüchtiger, unleidlicher Mensch, der an irgendeinem losen Zipfel zu packen sein würde.
    »Ich stelle Ihnen einen Wechsel aus«, rief er ihr zu, während sie in die bis zum Bersten vollgestopfte Bahnhofshalle hasteten. »Kommen Sie damit zurecht?«
    »Ich bin zwar auf einem Rancho geboren, aber ich bin keine Kuh«, erwiderte Anavera. »Wenn ich muss, komme ich mit allem zurecht. Ihren Wechsel brauche ich nicht. Sie müssen mit mir zurückfahren.«
    Mitten im Lauf blieb er stehen. »Können wir mit dem Unsinn nicht aufhören? Wenn Ihre Schwester Ihnen erzählt hat, ich hätte ihr die Ehe angetragen, dann lügt sie. Ich habe nie etwas getan, um diese Überzeugung in ihr zu erwecken, sondern immer offen bekannt, dass ich nichts als ein Abenteuer wünsche. Das können Sie gern verdammen, wenngleich Sie es Ihrem griechisch sprechenden Barbarenvater zugestehen. Aber, um die Wahrheit zu sagen, ich habe Ihre Schwester nicht gezwungen, sich darauf einzulassen. Ich habe sie nicht einmal gedrängt. Wenn Sie es genau wissen wollen, nichts davon war nötig, und das Gegenteil träfe weit eher zu.«
    »Ich wollte es nicht genau wissen«, stieß Anavera heraus und musste die Hände verschränken, weil sie entschlossen war, ihn nicht noch einmal zu ohrfeigen. »Warum gefallen Sie sich nur so unendlich gut darin, abscheuliche Dinge über Menschen zu sagen, die Ihnen nichts getan haben?«
    Statt einer Antwort kämpfte er sich weiter gegen die Menschenströme vor. Am Fahrkartenschalter hatte er mehr Glück als gestern bei der Zimmervermittlung. Der Beamte überschlug sich geradezu vor Unterwürfigkeit und versprach, dem Erben des Sanchez-Torrija-Vermögens ein Abteil im Zug nach Villa Hermosa zu reservieren. Für Anavera buchte er eine Fahrt erster Klasse in die Hauptstadt. »Ihr Zug geht erst um vier«, sagte er und schob ihr den Fahrschein zusammen mit dem Wechsel in die Hand. »Bleiben Sie nicht in dieser fürchterlichen Bahnhofshalle. Suchen Sie sich am besten eine Kapelle und warten Sie dort bis zur Abfahrtzeit. Essen können Sie im Zug, dort wird man Ihnen auch den Wechsel einlösen.«
    Während

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