Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
feiern. Als Tomás zu blasen begann, blies sie mit, wenn auch so schwach, dass keine Kerze erlosch. Tomás schaffte es jedoch auch allein. Sacht führte er ihr die Hand und senkte die Messerklinge in das rahmige Weiß der Torte. »Wünsch dir etwas«, flüsterte er und küsste ihr Haar.
Anavera wusste nicht, was sie sich wünschen sollte. Nichts für mich selbst, dachte sie, denn ich habe ja schon alles. Dass Miguel freikommt und dass Josefa mir nicht böse ist, wenn man sich so etwas von einer Verlobungstorte wünschen darf. Als es knallte, glaubte sie zunächst, ein weiterer Feuerwerkskörper sei gezündet worden. Aber es war die Tür zur Veranda, die zugeschlagen wurde, so heftig, dass sie in den Angeln zitterte. Davor stand Josefa, hoch aufgerichtet und in dem blutroten Kleid, das sie um jeden Preis hatte haben wollen. Es steht ihr nicht, durchzuckte es Anavera. Es ist für eine Frau mit schwarzem Haar gemacht.
»Wie reizend«, bemerkte sie und klang nicht mehr wie die Schwester, mit der Anavera Phantasiewelten erdacht, geheime Tagebücher geführt und ganze Nächte durchgeschwatzt hatte, sondern wie eine Fremde. »Auf meine Anwesenheit legt niemand Wert, wie ich sehe. Mein liebes Schwesterlein hat sich als willkommener Ersatz geboten. Mein liebes Schwesterlein, das doch sowieso viel herziger ist und euch allen schon immer viel mehr Freude bereitet hat als die Kratzbürste Josefa. Weshalb sollte man zu deren Geburtstag in den Hinterwald von Querétaro reisen? Aus der Art geschlagen ist die. Was will man von einer, die keinen Vater hat, auch erwarten?«
»Josefa!«, schrie die Mutter, stürzte auf die Schwester zu und versuchte sie zu umarmen. Josefa stieß sie von sich weg, dass sie gegen die Wand taumelte. Anavera wollte ihr zu Hilfe eilen, doch Tomás hielt sie zurück. »Natürlich hast du einen Vater«, stieß die Mutter mit schwerer Zunge heraus. »Du hast den besten Vater der Welt, und dass er heute nicht bei dir sein kann, ist nicht seine Schuld. Weißt du, wie schlecht er sich deswegen fühlt, weißt du, was er für dich getan hat?« Ehe jemand sie aufhalten konnte, rannte sie quer über den von Lampions und bengalischen Fackeln erhellten Platz zu dem Tisch mit den Geschenken, packte einen zur Rolle gebundenen Satz Dokumente und lief mit wehendem Rebozo wieder zurück. Dass sie nicht mehr gerade gehen konnte, hatte jeder sehen können, und Anavera tat das Herz um sie weh. Schwer atmend blieb sie vor Josefa stehen und löste mit fliegenden Fingern die Kordel um die Papiere. »Mit deinem heutigen Geburtstag gibt dein Vater dein Erbe frei«, schrie sie und rang zwischen den Worten nach Luft. »Ein Drittel des Geldes, das er für seine Kinder angelegt hat, hat er auf ein Konto beim Banco de Londres y Mexico eingezahlt, über das du frei verfügen kannst. Und weil er weiß, wie gern du in der Hauptstadt bist, und weil ihm aber die Zimmer, die er dort seit Jahren bewohnt, für dich nicht gut genug sind, hat er dir eine Wohnung gekauft. Mit Blick auf die Alameda, einen Katzensprung von Martinas Palais entfernt.« Tomás pfiff durch die Zähne. Die Mutter drückte die Papiere Josefa in die Hand. »Das ist der Vater, den du nicht hast«, presste sie heraus, dann verstummte sie. Über ihr Gesicht rannen Tränen.
Wenn Josefa erschüttert war, ließ sie es sich nicht anmerken. Mit zermürbender Langsamkeit entrollte sie die Papiere und studierte sie. Eine schweigende Ewigkeit verging, ehe sie endlich die Hand mit den gesiegelten Bogen sinken ließ. »Das trifft sich nicht schlecht«, bemerkte sie nebenher. »Ich hatte nämlich ohnehin vor, in den nächsten Tagen in die Hauptstadt abzureisen. Hier habe ich Zeit genug vergeudet, und ihr habt ja die süße Anaverita und den wackeren Tomás.«
Wo sie stand, ließ sie die Papiere auf den Boden fallen, trat zur Seite und riss mit einem Ruck die Piñata von der Traufe des Vordachs. Der bunte Papierballon zerplatzte, und im Gras ergossen sich Pralinen, Zuckerstangen und kandierte Früchte. Josefa schoss auf dem Absatz herum, dass der Rock des roten Kleides wirbelte, und wollte ins Haus zurückgehen.
Mit einem zornigen Laut setzte Martina auf sie zu, musste aber innehalten und die Arme statt nach Josefa nach der Mutter strecken, die schwankte, als könnte sie sich nicht länger auf den Beinen halten. »Du bleibst hier, Señorita«, brüllte sie Josefa hinterher, die wutentbrannt wieder herumfuhr. Wie zum Hohn feuerte jemand, der offenbar von dem Eklat nichts mitbekommen
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