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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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hatte, den letzten Feuerwerkskörper ab, der einen silbernen Funkenregen über das Haus hinweg in den Himmel sandte. Was immer die drei Frauen einander noch sagten, ging in dem Lärm, der darauf folgte, unter.
    Anavera brauchte eine Weile, bis ihr klarwurde, dass das Geschrei nicht ihnen galt, sondern von vorn kam. Sie drehte sich um und sah eine Schar der jüngeren Gäste, die vom Festplatz auf den Hang zuliefen, wobei sie winkten und riefen. Der Grund war sofort ersichtlich. Über die Kuppe quälte sich ein Gefährt, ein eleganter blau lackierter Zweispänner mit der typischen Stadtanspannung, wie Anavera sie zuweilen in der Hauptstadt gesehen hatte. Über den Türen der Kabine waren zu beiden Seiten Laternen angebracht, die den Wagen in gelbes Licht tauchten. Zwei glänzend gestriegelte Braune zogen das Gefährt, das links und rechts von zwei Bewaffneten in engen Charro-Hosen und den Sombreros der Rurales flankiert wurden.
    »Halt!«, rief nun auch Anavera und lief hinter den anderen her. Auf keinen Fall durfte der Kutscher versuchen sein Gespann weiterzutreiben. Der Hang war für die schwere Kutsche zu steil, das Gefährt würde unweigerlich hinunter in die Senke stürzen, und Kutscher wie Passagiere mochten sich die Hälse brechen. Zu ihrer Erleichterung erreichten Enrique und Vicente in diesem Augenblick die Kuppe und griffen den Pferden in den Zaum.
    Der Kutscher war gezwungen anzuhalten, doch statt sich für seine Rettung zu bedanken, holte er mit der gewaltigen Bogenpeitsche aus. »Aus dem Weg, Pack!«
    Enrique sprang zur Seite, doch Vicente blieb stehen und klopfte dem scheuenden Pferd den Hals. Wenn der Mann zuschlug, würde die Peitschenschnur ihrem Bruder das Gesicht zerschneiden. »Sie müssen absteigen!«, brüllte Anavera aus Leibeskräften und hörte andere, die Ähnliches riefen. Was Vicente sagte, hörte sie nicht, sah aber, dass der Kutscher die Peitsche noch weiter ausschwang und bereit war, sie mit aller Wucht nach vorn zu schleudern. »Vicente«, schrie Anavera, »zur Seite!«
    Vicente aber liebkoste ungerührt das Pferd. »Sie können dort nicht hinunterfahren«, sagte er höflich zu dem Kutscher. »Es ist zu steil, die Pferde brechen sich die Beine.«
    Ohne Zweifel hätte die Peitschenschnur ihn getroffen, wäre nicht in diesem Moment der Schlag des Wagens aufgeschoben worden. Der Kutscher drehte sich um, und die beiden Rurales zielten mit ihren Gewehren auf Vicente, als würde er den Mann, der der Kabine entstieg, bedrohen. Es war ein hochgewachsener Mann in der weißen Galauniform eines Offiziers. Sein Haar war eisgrau und seine Haut so hell, wie man sie in dieser Gegend kaum je sah – die Haut von Menschen rein europäischer Abstammung.
    Mit seinem Gehstock stieß der Mann nach Vicente. »Finger weg von meinem Pferd, Bursche.«
    Anavera hastete den Hang hinauf und glaubte das Klicken zu hören, mit dem einer der Rurales seine Waffe entsicherte. Die Polizeitruppe, die Präsident Diaz verstärkt hatte, um auf dem Land für Ordnung zu sorgen, galt als brutal und skrupellos. Die meisten von ihnen hatten selbst den Banden von Banditen angehört, die sie jetzt verfolgen sollten. Es hieß, sie erpressten Schutzgelder von den verängstigten Bauern und hätten im Nachbardorf einen Jungen von zwölf Jahren erschossen, weil er ein Huhn gestohlen hatte.
    Zu ihrer Linken schloss ihr Onkel Xavier zu Anavera auf. In Abwesenheit ihres Vaters war er als ältester Mann das Oberhaupt der Familie. »Lassen Sie den Jungen in Ruhe«, rief er keuchend. »Vicente Alvarez ist der Sohn des Gouverneurs von Querétaro, und Sie befinden sich hier auf unserem Besitz.«
    »Allerhand«, versetzte der Besucher und wischte sich mit dem Handrücken etwas von der Uniform. »Und was, meinst du, kratzt es mich, dass andere Leute ihre Söhne nicht ordentlich erziehen können? Im Übrigen ist mir das, was du mir da vorträgst, bekannt.« Dass er Xavier duzte, war ein Affront, wie ihn sich Weiße Indios gegenüber fortwährend herausnahmen.
    Xavier, der soeben die Kuppe erreichte, reagierte bemerkenswert beherrscht. Er schob seinen Sohn Enrique beiseite und stellte sich zwischen Vicente und den Offizier. »Ich nahm an, Sie sind fremd hier«, sagte er. »Mir zumindest sind Sie noch nicht begegnet, und ich lebe hier seit meiner Geburt.«
    »Das habe ich befürchtet.« Der Fremde spitzte die Lippen und verdrehte die Augen. Anavera blieb in ein paar Schritten Entfernung stehen. Familienmitglieder und Gäste drängten nach und

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