Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
wissenschaftlichem Interesse. Ich bin Völkerkundler. So wie Sie, Señorita, stellt man sich in meinen Breitengraden die Töchter der Aztekenkönige vor – diese Schönheit, dieses Ebenmaß, dieser stolze Kampfgeist in der Haltung des Kopfes. Und diese Klugheit und Bildung im Blick, die der Europäerin derselben Epoche noch gänzlich fremd war.«
Anavera, so tief beschämt und verzweifelt sie sich fühlte, musste sich auf die Lippe beißen, um nicht loszuprusten. Sie wollte Otto Bierbrauer auf sein feuriges Kompliment eine freundliche Antwort geben, brauchte jedoch Zeit, um sich zu sammeln.
»Oh, ich befürchte, die Prinzessin der Azteken spricht kein Spanisch«, mutmaßte Otto Bierbrauer. »Was stattdessen? Ich hoffe, nicht Mayathan. Ich weiß, Teobald Maler spricht dieses bemerkenswerte Idiom fließend, aber mein kleiner Geist beißt sich daran die stumpfen Zähne aus.« Ein Lächeln überzog sein Gesicht wie ein plötzlicher Lichteinfall. »Wie wäre es mit der lingua franca des gesamten Lebensraums?«, fuhr er zu Anaveras Verblüffung in einem Kauderwelsch fort, das zweifellos Nahuatl sein sollte. »Ist mir mit diesem Versuch mehr Glück beschieden?«
»Ich schlage Deutsch vor«, sagte Anavera und verblüffte ihn damit nicht weniger als er sie.
Er war reizend, fand Anavera. Eine vom Himmel gesandte Erlösung. Nachdem er seiner Begeisterung über die Deutsch sprechende Aztekenprinzessin Luft gemacht hatte, kam er verlegen auf sein Anliegen zu sprechen. Die drei Waggons seien hoffnungslos überbucht, wie Anavera unschwer erkennen konnte. Den gestrigen Zug, in dem er einen Sitzplatz reserviert hatte, habe er aufgrund einer verspäteten Ankunft seines Schiffs verpasst, und in diesem sei kein einziger Platz mehr zu vergeben gewesen. »Nun ist Stehen ja gesund«, bekundete er tapfer, »nur hält die Länge meiner Beine dem Gewicht meines Leibes nicht ganz stand, so dass es nach der sechsten Stunde doch ein wenig qualvoll wird. Zwar liegt es einem Ästheten wie mir wahrhaftig fern, mich einem so schönen Paar wie Ihnen beiden zur Last zu machen, aber Ihr Abteil scheint das einzige, in dem noch ein Plätzchen frei wäre. So kam mir der Gedanke, ob es wohl möglich wäre, für eine ganz kleine Weile den übermüdeten Beinen eine Pause zu gönnen?«
»Sie kommen zu uns«, entschied Anavera ohne Federlesens. Sie war von neuem außer sich. Weil Sanchez Torrijas Sohn keine Menschen um sich ertrug, hatte dieser Mann, der sein Vater hätte sein können, sechs Stunden in der Gluthitze stehen müssen. »Holen Sie Ihr Gepäck. Wir haben Platz genug und einen edlen nordspanischen Wein.«
Der Schneemann strahlte.
»Das ist Señor Otto Bierbrauer, Völkerkundler aus München«, stellte Anavera kurz darauf die beiden Männer einander vor. »Herr Bierbrauer, das ist Señor Sanchez Torrija, unterwegs zu seinen Plantagen in Yucatán.« Wie Sanchez Torrijas Sohn mit dem Vornamen hieß, wusste sie, aber es widerstrebte ihr, diesen Namen in den Mund zu nehmen.
»In Yucatán!«, rief Otto Bierbrauer hingerissen. »Dann nehmen Sie von Villa Hermosa doch sicher einen Reisewagen?«
Da Anavera keine Antwort geben konnte, bellte Sanchez Torrijas Sohn schließlich: »Was wohl sonst? Wollten Sie uns ein paar Flügel zum Verleih anbieten?«
Otto Bierbrauer warf den Kugelkopf zurück und klatschte sich auf den Schenkel. »Wie scharfsinnig! Mein humoriger Freund, da haben Sie mich aber wirklich bei einer Eselei ertappt.« Er war eine Wohltat. Kurz darauf öffnete er seine Reisetasche, entnahm ihr ein Paar nahezu armdicker gesottener Schweinswürste und begann, nachdem er ihnen beiden vergeblich davon angeboten hatte, sie in schmatzenden Bissen zu verspeisen.
Das angewiderte Gesicht, das Sanchez Torrijas Sohn zog, war viel mehr als Gold wert. Der arglose Wissenschaftler hatte dem Widerling eine Parade verpasst, ohne die geringste Tücke an den Tag zu legen.
Der Zug ruckelte stetig langsamer durch eine Kette von Tälern und hielt ständig an. Während Anavera und Sanchez Torrijas Sohn hellwach und schweigend vor sich hin schwitzten, hielt Otto Bierbrauer schnarchend sein Nickerchen. Als er wieder zu sich kam, riss er den von Sanchez Torrijas Sohn mit einer Halstuchnadel festgesteckten Vorhang auf und erging sich in hingerissenen Hymnen: »Diese Farben, dieses Leuchten! Sehen Sie doch nur, meine Herrschaften! Hat die Welt irgendwo ein solches Feuerwerk aufzubieten, solche Kraft, solche Herrlichkeit in einem Sonnenuntergang? Als hätte ein
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