Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
könnte, beginnen wir gerade erst zu erahnen«, holte er aus. »Ob es sich uns je ganz erschließen wird, steht in den Sternen, die die Maya mit so viel Akribie und Weisheit studierten. Die großartigen, noch zu weiten Teilen vom Dschungel überwucherten Steinbauten von Chichén Itzá dürften die Überreste der größten Siedlung darstellen, die die Maya jemals erbaut haben. Ich bin, wie gesagt, noch nicht dort gewesen und hoffe, dass meine alten Augen vor diesem Wunder nicht erblinden. Aber die Lektüre von Teobald Malers Schriften genügt, um vor dem schieren Ausmaß in Ehrfurcht zu erstarren. Sie dürfen nicht vergessen, die Maya kannten weder das Rad, noch besaßen sie Packtiere. Wer sie deswegen primitiv schimpft, kann Chichén Itzá, das mit der bloßen Hand errichtete Atlantis, nie gesehen haben.«
»Und warum sind diese Kulturen dann nicht mehr vorhanden, sondern von höherstehenden überrollt worden?«, versetzte Sanchez Torrijas Sohn.
»Oh, dem ist durchaus nicht so«, antwortete Otto Bierbrauer. »Die Gründung des Staates Chan Santa Cruz, der beharrlich seine Bastion hält, ist nur der deutlichste Beweis dafür, dass die Maya sich nicht aufgegeben haben. Unabhängige Maya-Siedlungen, die sich dem Staatsgefüge Mexikos nicht zugehörig fühlen, soll es im Grenzgebiet überall geben. Diese Gruppierungen werden durch den Bestand von Chan Santa Cruz und von der Macht des sprechenden Kreuzes in ihrer Entschlossenheit gestärkt. Mit allen Mitteln kämpfen sie darum, bleiben zu dürfen, was sie immer waren – ein eigenes Volk.«
»Mit allen Mitteln, pah!«, stieß Sanchez Torrijas Sohn heraus. »Mit Verbrechen, meinen Sie wohl, Entführungen, Überfälle, an Fenstergitter genagelte Christen, das sind schwerlich Beweise, die eine Kultur für ihre Größe erbringt.«
»Bravo, mein wohlgestalteter Freund!«, applaudierte der Münchner. »Sie sind scharfzüngig und nicht leicht unterzukriegen. Natürlich haben Sie recht. Dass wehrlose Reisende überfallen und versklavt oder gar grausam abgeschlachtet werden, zeugt nicht von Größe, sondern höchstens von Verzweiflung und angestautem Hass. Vergessen Sie aber die Jahrhunderte nicht, in denen dieses Volk – wie das aztekische Ihrer schönen Prinzessin – in bestalischer Weise unterdrückt worden ist. Unter solchen Bedingungen bilden sich nie die edelsten Eigenschaften eines Volkes heraus, sondern stets die, die am ehesten zum Überleben taugen.«
Ehe Sanchez Torrijas Sohn mit einem neuen geknurrten Konter auffahren konnte, platzte Anavera auf Deutsch dazwischen: »Bitte, Herr Bierbrauer, erklären Sie mir Chan Santa Cruz und das sprechende Kreuz? Jeder redet davon wie von den Dämonen der Wälder, aber was dahintersteht, scheint kein Mensch zu wissen.«
»Das ist das Beängstigende an Dämonen, nicht wahr?« Otto Bierbrauer sandte ihr ein charmantes Lächeln, ehe er sich Sanchez Torrijas Sohn zuwandte und ins Spanische wechselte. »Ihre Braut fragt mich nach der Geschichte des sprechenden Kreuzes, das schließlich den freien Staat der Maya hervorgebracht hat. Sie können sich glücklich schätzen, eine so wissbegierige Gefährtin für sich gewonnen zu haben. Sie ist Ihnen gewachsen. Bei ihr können Sie sicher sein, dass sie Sie nicht nur für Ihren Reichtum und für Ihre allerdings bemerkenswerten Augen liebt.«
»Verdammt, beantworten Sie von mir aus ihre Frage, aber lassen Sie mir meinen Frieden«, brach es aus Sanchez Torrijas Sohn heraus.
»Sehr gern«, erwiderte Otto Bierbrauer unbeeindruckt und wandte sich an Anavera. »Der Krieg der Kasten ist Ihnen ein Begriff, meine schöne Aztekin?«
Anavera zuckte mit den Schultern. »So wird der Kampf der Maya-Völker Yucatáns gegen ihre Unterdrückung genannt – gegen den Verkauf ihres Landes und Bedingungen, unter denen kein menschenwürdiges Leben mehr möglich war«, zählte sie das Wenige, das sie wusste, auf. »Sie haben verblüffende Siege errungen und letztlich sogar Valladolid erobert, doch am Ende unterlagen sie, weil Mexiko dem damals unabhängigen Yucatán zu Hilfe kam.«
Otto Bierbrauer nickte anerkennend. »Oder weil sie an den fliegenden Ameisen in der Luft erkannten, dass die Regenzeit gekommen war und sie zurück in ihre Dörfer mussten, um ihre Felder zu bestellen. Wer weiß das schon? In jedem Fall war das nicht das Ende der Geschichte, denn kurz darauf erschien über einem Cenote, einem der schillernden Wasserlöcher, die sich in eingestürzten Kalksteinhöhlen bilden, über Rotalgen
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