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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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durchaus so töricht sein mochte, den Bastard eines anderen Mannes zu lieben – diese musste er mehr lieben. Diese war sein Fleisch und Blut.
    Das verdammte Volk in der Hauptstadt hatte aus irgendwelchen schwülstigen Gründen sein Herz an ihn gehängt. Er war sein Talisman, sein Vorzeige-Wilder. Es hatte ihm den Skandal um die Tochter und sogar die Affäre mit Dolores de Vivero verziehen, und er stand immer noch aufrecht in seiner Unverwüstlichkeit. Würde ihn dies in die Knie zwingen? Die dunkle Tochter, die sein Ebenbild war, verführt und zerbrochen, ohne Aussicht auf eine halbwegs akzeptable Heirat?
    Die Schwierigkeit war nur, sie war sein Ebenbild. Sein Fleisch und Blut. Im Äußeren keine Mestizin, sondern eine vollblütige Wilde. Jaime hatte es nie auch nur für denkbar gehalten, den Körper einer Frau zu umarmen, die seiner eigenen Art nicht entstammte. Die ihm fremd war. Barbaros. Er starrte auf ihren hochgereckten Hals. Wenn er sich überwand und sie nahm, um ihren Vater zu treffen – würde er sie danach hinter sich lassen und weitergehen können, wie er es immer tat? Oder würde etwas von ihr an ihm bleiben und ihn verändern? In der Hitze schauderte er. Eine tiefhängende Ranke streifte wie die Spitze eines Fingers seine Stirn.
    Sie drehte sich um. Ihr Blick war ruhig, ohne Lächeln. Er wollte sich abwenden, und vielleicht wollte sie es ebenfalls. Sie wandten sich beide nicht ab. Ihre Augen, die sich an dem Grün vollgetrunken hatten und erschöpft waren, hielten sich aneinander fest. Irgendwann begann der Wald sich zu lichten, wenngleich das dichte Unterholz weiter unter den Rädern knirschte, als würden Knochen zermahlen. Der hohe, betörende Ton eines Flötenregenpfeifers schwebte über den anderen Geräuschen.
    Der Indio langte nach hinten und tippte dem Bierbauch, der mit dem Rücken zu ihm saß, auf die Schulter. Der Bierbauch drehte sich um und brach in eine lange Folge seiner begeisterten Jubellaute aus. Der Wortschwall, der für gewöhnlich darauf folgte, blieb jedoch aus. Stattdessen versuchte er sich aufzurichten, um besser sehen zu können, was den Karren ins Schwanken brachte. Der Indio zügelte das Maultier, bis es stillstand, und Jaime und das Mädchen wandten die Köpfe.
    Durch die grüne Wand, die Löcher und Risse bekommen hatte, schimmerte Gestein. Mitten in die Übermacht der Natur hatten Menschen eine Stadt geschlagen. Auch wenn sie seit Jahrhunderten verlassen, wenn ihr Volk zu Staub zerfallen war, stand sie noch immer hier, wie von überirdischen Kräften geschützt. Die zerfallene Plattform auf der Spitze der Pyramide überragte die Kronen der Kapokbäume.
    »Chichén Itzá«, murmelte der Bierbauch. »Die Stadt am heiligen Brunnen.«

38
    A navera hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Im ersten Morgengrauen waren sie aus Mérida aufgebrochen, und seither musste die Erde sich etliche Male um sich selbst gedreht haben. Hinter ihr, in den Nebeln, die aus dem grünen Dickicht stiegen, verschwand ihre Vergangenheit, verschwanden die Menschen, die irgendwo auf sie warteten. Nur das, was vor ihr lag, war noch übrig – Chichén Itzá.
    Ihr Fahrer, ein junger Mazehual, der nur gebrochen Spanisch sprach, weigerte sich weiterzufahren. »Du gehen zu Fuß«, sagte er. »Ich warten. Karren machen zu viel Lärm.«
    Wen fürchtete er aufzuwecken? Die Götter, die in den Nischen und Kammern zwischen den moosbewachsenen Steinen schliefen? Otto Bierbrauer war bereits aus dem Karren gehüpft und gab emsig Erklärungen zu dem ab, was sie gleich zu sehen bekommen würden. Zum ersten Mal zerrte seine Redseligkeit Anavera an den Nerven. Sie wünschte, er würde schweigen und sie ohne Erklärung lassen. Sie wünschte, sie müssten weder dem Archäologen Teobald Maler noch den anderen Forschern, die er auf der Stätte vermutete, begegnen. Sie wollte allein sein mit Chichén Itzá. Still und allein.
    Sanchez Torrijas Sohn sprach kein Wort, als er ihr die Hand hinhielt, um ihr vom Karren zu helfen. Er trägt keine Handschuhe, bemerkte sie. Seine Hand war übersät von feinen weißen Narben. Ohne sie zu ergreifen, sprang sie ab. Otto Bierbrauer, dem offenbar auffiel, dass er auf sein Reden keine Erwiderung erhielt, verstummte endlich. Schweigend machten sie sich zu dritt auf den Weg durch das Dickicht, das sich mit jedem Schritt lichtete. Als glitte Vorhang um Vorhang beiseite und gäbe mehr von dem Geheimnis frei. Überreste von Mauern, von Moosen und Farnen umwuchert, ruhten zwischen Büschen und

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