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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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den Kopf. In dem, was in seinen goldbraunen Augen stand, glaubte sie gespiegelt zu sehen, was in ihr selbst tobte. Einen Moment lang wartete er, dann wandte er sich zurück und ging weiter, bis er zwischen zwei Palmen am Fuß der Pyramide stehen blieb.
    Anavera schloss zu ihm auf und wünschte sich jäh, ihn zu berühren, um im Schatten des Wunders nicht allein zu sein.
    »Wollen Sie nach oben steigen?«, fragte Otto Bierbrauer schwer atmend. »Für meine kurzen Beine ist es nicht zu schaffen, aber so schlank und rank, wie Sie beide gewachsen sind, sollte es Ihnen ein Leichtes sein.«
    Geradezu entsetzt schüttelte Anavera den Kopf, doch das sah Otto Bierbrauer nicht, und über schlafende Götter wollte sie kein Wort mehr sagen.
    »Nein«, sagte Sanchez Torrijas Sohn.
    »Es ist aber ungefährlich«, beteuerte Otto Bierbrauer. »Und der Blick muss herrlich sein. Alfred Maudsley, der britische Archäologe, soll im letzten Jahr dort oben sogar kampiert haben.«
    »Nein«, wiederholte Sanchez Torrijas Sohn. »Von Santa María de la Sede muss der Blick auch herrlich sein. Trotzdem möchte ich nicht, dass irgendwelche Neugierigen ihr aufs Dach steigen und dort ihr Picknick abhalten.«
    »Oho«, murmelte Otto Bierbrauer leise. »Ich verstehe.«
    »Was ist Santa María de la Sede?«, fragte Anavera.
    »Die Kathedrale von Sevilla«, antwortete Sanchez Torrijas Sohn und wagte sich noch einen Schritt näher. Vor einem steinernen Schlangenkopf, der am Fuß einer der Treppen aus blühendem Gesträuch herauswuchs, ging er in die Knie. Er berührte ihn nicht, doch seine Blicke schienen ihn abzutasten.
    »Kukulkan«, erklärte Otto Bierbrauer. »Der mächtige Schöpfergott der gefiederten Schlange. Ihm ist die Pyramide geweiht, und ihm galten die Opfer, die dort oben in der Höhe erbracht worden sind.«
    Der Schlangenkopf sah aus, als würde der alte Gott von den verlorenen Zeiten seines größten Glanzes träumen.
    »Wir haben ihn auch«, entfuhr es Anavera. »Bei uns heißt er Quetzalcoatl.«
    Sanchez Torrijas Sohn blickte zu ihr auf, weder spöttisch noch überheblich, nur fragend und zutiefst verunsichert.
    »Nein, wir opfern ihm nichts mehr«, sagte sie. »Wir bewahren nur seine Geschenke, Mais und Amarant, damit wir am Leben bleiben, und Tanz und berauschende Getränke, damit wir das Leben lieben.«
    »Sagen Sie noch einmal seinen Namen«, bat er.
    »Quetzalcoatl. Schlange mit den Quetzal-Federn. Wind, der den Regen bringt.«
    Er streckte die vernarbte Hand aus, berührte kurz und zart den Kopf des Schlangengottes Kukulkan und zog sie wieder zurück.

    Für Stunden, die sie nicht zählten, wanderten sie zwischen den Ruinen der versunkenen Stadt umher. Über den Mauern der verfallenen Paläste flatterten Schmetterlinge, und auf den Dachsteinen der Tempel sonnten sich Geckos. Eines aber fiel ihnen erst auf, als sie in einer der besser erhaltenen Tempelkammern eindeutige Spuren menschlichen Aufenthalts entdeckten. Auf dem Boden fanden sich Reste einer Feuerstelle, Eierschalen und Hühnerknochen verrieten, was dort verzehrt worden war, und in der Ecke lag ein vergessenes Kleidungsstück.
    »Hier hat wohl Teobald Maler bei seiner letzten Expedition sein Lager aufgeschlagen«, sagte Otto Bierbrauer und ließ sich völlig abgekämpft auf eine umgestürzte Säule plumpsen. Sein Gesicht war krebsrot und schweißbedeckt. »Ich frage mich aber, wo er jetzt steckt. Er muss doch auch Leute bei sich haben, Zeichner, Fotografen, Helfer. Mir kam es vor, als wäre dieser ganze Zauberort menschenleer.«
    »Er ist menschenleer«, sagte Sanchez Torrijas Sohn.
    »Sie meinen also, die Forscher kampieren hier irgendwo in der Nähe? Vermutlich im Wald?«
    »Vermutlich«, stimmte Sanchez Torrijas Sohn zu. »Wir finden sie besser schnell, denn die Sonne sinkt schon. Aber ausruhen müssen Sie sich trotzdem.«
    Otto Bierbrauer nickte verlegen. »Ich fürchte, ich kann keinen einzigen Schritt mehr gehen, und die Zunge hängt mir bis auf den Bauch. Aber was ist denn mit Ihnen – wenn es jetzt dunkel wird, kommen Sie ja heute nicht mehr weiter!«
    »Nein«, bestätigte Sanchez Torrijas Sohn. »Uns wird nichts übrigbleiben, als die Nacht hier zu verbringen.«
    »Das tut mir von Herzen leid«, bekannte Otto Bierbrauer. »Ich brocke Ihnen wirklich nur Scherereien ein.«
    Sanchez Torrijas Sohn warf einen Blick hinüber zur Pyramide und sagte: »Nein, nicht nur.« Dann öffnete er den Proviantbeutel und entnahm ihm die Tortillas, die gesalzenen Pistazien und

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