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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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ihn zu überwuchern und unter sich zu begraben drohte? Nirgendwo hatte Jaime je eine Natur von solcher Gewalt erlebt. Die Nacht in Mérida, der weißen Stadt der Kolonialbauten und schattigen Bogengänge, erschien ihm wie ihre letzte Berührung mit dem sicheren Ufer. Jetzt trieben sie hinaus auf ein offenes Meer, dessen Wellen nicht blau und durchscheinend waren, sondern grün und undurchdringlich, eine Untiefe, die nicht preisgab, was im nächsten Moment aus ihr hervorschießen mochte.
    An tödlichem Getier gab es hier alles, was der wüsteste Alptraum einem vorgaukeln mochte. Nicht nur giftige Nattern und Baumschlangen, sondern noch giftigere Frösche, nicht nur Spinnen, sondern auch Skorpione, nicht nur tückische Affen und Wiesel, sondern auch Langschwanzkatzen und vermutlich Jaguare. Dazu träge lauernde Leguane, die aussahen wie die Drachen in Büchern, mit denen man Kindern den Schlaf vergällte. Jaime hatte nie am Leben gehangen. Manchmal, wenn er sich vorgestellt hatte, ein betrogener Ehemann oder Vater fordere ihn zum Duell, hatte der Gedanke an die schnelle Kugel keinen Schrecken, sondern eine Art von Süße besessen. Ein Ende von Leere und Langeweile, von Ekel und Entblößung. Die Vorstellung, von einem dieser Alptraumgeschöpfe niedergerissen und zerfleischt zu werden, ehe der grüne Dschungel die verbleibenden Knochen überwucherte, drehte ihm hingegen den Magen um.
    Wo sie nicht tödlich war, war die Natur aufdringlich, sinnlich, unausweichlich. Sie roch nach Nässe und Erde, nach dem Zerfall der zu Zelten gefächerten Blätter und den Blüten, die groß wie Kindsköpfe mitten im Grün prangten. Man konnte nicht den Mund öffnen, ohne den Pelz auf der Zunge zu schmecken, der auch durch die zu dünnen Kleider drang, sich auf die Haut legte und sämtliche Poren verstopfte. Keine Pflanze, kein Baum, kein Strauch stand für sich allein, eines spross über das andere, rankte und schlängelte sich, saugte der Wirtspflanze nach Parasitenart die Kraft aus. An vielen Stellen wurde das Gewirr so dicht, dass der Indio, der ihren Maultierkarren lenkte, abspringen und mit der Machete eine Schneise hineinschlagen musste. Hatten sie die durchquert, so mochte Jaime sich nicht umdrehen, aus Angst zu entdecken, dass der Tunnel im Grün sich bereits wieder hinter ihnen schloss.
    Der Dschungel schwieg keinen Herzschlag lang still. Vögel, die nie in Grau oder Braun daherkamen, sondern in Farben, deren Grellheit in den Augen schmerzte, stießen Schreie in die feuchte Luft, die nach Lust und Gier klangen, nach dem Willen, zu erobern und die eigene Art zu mehren, ehe das Grün sie verschlang. Grillen zirpten, bis dicht an den Karren schwirrten Motten und Schmetterlinge, Melipona-Bienen, Moskitos und gemeine Fliegen. Auf der Vielfalt der Stämme und Blattformen klebten Käfer, Termiten und Ameisen in Baumnestern, Heuschrecken und Gottesanbeterinnen, die ihre männlichen Gespielen nach der Paarung verspeisten.
    Hätte er sich nicht mit aller Kraft gegen solche Geistesverwirrung gewehrt, wäre es ihm vorgekommen, als hätten sie vor der Kathedrale San Ildefonso in Mérida auch Abschied von der christlichen Religion genommen und sich in die Hände dämonischer Götter begeben. Götter, die in der Verborgenheit des Dschungels ihren eigenen Untergang überlebt hatten und auf ihre Gelegenheit warteten. Götter, die von ihren Gläubigen forderten, dass sie sich mit dem Stachel eines Rochens Zungen, Lippen und Geschlechtsteile durchbohrten, um ihr Blut, ihre Lebenssäfte der göttlichen Unersättlichkeit zu opfern.
    Jaime mochte Grün. Die kühle Glätte von Jade hatte er geliebt, das Schillern der Oberfläche, die von Haut so weit entfernt wie nur denkbar war. Jetzt war er sicher, er würde das Material in seinem Haus nicht länger ertragen.
    Das Mädchen neben ihm, die Aztekin, wie der Bierbauch sie nannte, tat etwas, das die wenigsten Menschen konnten. Sie sah und schwieg. Für gewöhnlich stießen Menschen, die behaupteten, von etwas fasziniert zu sein, spitze Laute in Form von »Ah« oder »Oh« aus, gaben unentwegt Worte wie »wundervoll«, »atemberaubend« und »erstaunlich« von sich oder schwatzten mit ihren Sitznachbarn über wundervolle, atemberaubende, erstaunliche Ereignisse ihrer Vergangenheit. Auch der Bierbauch gehörte jener Zunft an. Das Mädchen aber saß still und hielt den Kopf ins Grün gereckt, sah es mit unermüdlichen Augen an. Sie hatte die immense Haarfülle unter ihren Hut gesteckt, und wenn Jaime sich

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