Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Baumstämmen. Aus einem weiß blühenden, nach Harz duftenden Guajakstrauch ragte der Stumpf einer Säule.
Immer schütterer wurde der Wald, immer häufiger erstreckten sich freie Flächen dazwischen, auf denen nur Niederholz und Kräuter wuchsen. Jede dieser Flächen musste einst bebaut gewesen sein, davon kündeten die steinernen Trümmer, die überall durch die Vegetation schimmerten. Sie waren hintereinander gegangen, Otto Bierbrauer voran, Anavera in der Mitte und Sanchez Torrijas Sohn zum Schluss. Als sie jedoch aus einer Art Höhle aus Geäst auf den größten der freien Plätze traten, drängten sie sich jäh zueinander. Vor ihnen erstreckte sich ein riesiges, in Stein gepflastertes Feld. Wenn auch Baumwurzeln die Fugen zwischen vielen Pflastersteinen aufgebrochen hatten und andere gänzlich von Pflanzensporen überwachsen waren, ließ sich das Ausmaß der Anlage unschwer erkennen. Das gesamte Feld musste von einer Mauer umgeben gewesen sein, von der jetzt nur noch Reste standen.
»Das tödliche Spiel«, raunte Otto Bierbrauer. »Es war wohl dem baskischen Pelota ähnlich, doch wie es genau gespielt wurde, wissen wir nicht. Nur dass eine der beiden Mannschaften am Ende sterben musste.«
»Warum?«, fragte Sanchez Torrijas Sohn tief und beinahe unhörbar.
Otto Bierbrauer wandte sich ihm zu. »Wir vermuten, dass das Spiel aus einem der uralten Mythen hervorging«, erklärte er, diesmal ohne die Stimme zu erheben. »Die heroischen Zwillingsbrüder Huhnapu und Xbalanke erregten durch ihr Spiel mit einem Gummiball den Zorn der Götter. Zur Strafe wurden sie in die tiefste der neun Unterwelten gelockt und sollten dort auf immer gefangen bleiben, doch durch ihren Mut und ihre Klugheit gelang es ihnen, die Götter zu überlisten. Auf der Flucht aber wurde Huhnapu der Kopf abgerissen, und die Rache der Götter war grausam. Sie benutzten den Kopf, um vor den Augen des entsetzten Xbalanke nun ihrerseits Ball zu spielen. Xbalanke weigerte sich jedoch, das Schicksal seines Bruders hinzunehmen. Er pflückte von seinem Feld einen Kürbis und brachte es fertig, diesen gegen Huhnapus Kopf auszutauschen. Damit hatte er sein Spiel gewonnen. Wer aber das ewige Spiel um Fruchtbarkeit und Tod verliert, dessen Kopf fordern die Götter ein.«
Fruchtbarkeit und Tod, hämmerte es in Anaveras Kopf. Fruchtbarkeit und Tod.
»Die Mannschaft, die das Spiel verlor, wurde geopfert?«, fragte Sanchez Torrijas Sohn.
»Wir nehmen es an«, erwiderte Otto Bierbrauer. »Wir schließen es aus dem Popol Vuh, dem Buch des Rates, einem unschätzbaren Dokument aus dem 16. Jahrhundert, das uns von den Mythen der Maya erzählt.«
Bange sah Anavera aus dem Augenwinkel hinüber zu Sanchez Torrijas Sohn. Bitte lass ihn nicht in Geschrei über Menschenopfer und kulturlose Wilde ausbrechen, betete sie stumm. Aber Sanchez Torrijas Sohn brach in kein Geschrei aus. Behutsam, als würde er sich fürchten, den Fuß aufzusetzen, ging er über das Spielfeld, blieb einmal stehen und ließ sich auf die Knie nieder, um den Boden zu berühren. War hier ein Mensch gestorben, ein Opfer erbracht worden, um die Götter zu beschwichtigen, damit sie Fruchtbarkeit austeilten, nicht den Tod? Wusste der Stein, der älter als ein Jahrtausend war, noch etwas vom einst vergossenen Blut? Als sie Sanchez Torrijas Sohn folgte, bemerkte Anavera, dass sie die Füße mit ebenso viel Vorsicht aufsetzte wie er. Schritt um Schritt, mit geduckten Köpfen, bewegten sie sich auf die Pyramide zu.
Von Bäumen umstellt, erwartete sie das höchste Bauwerk, das Anavera je gesehen hatte. Auch auf den Stufen, die an allen vier Seiten in die Höhe führten, wuchsen Bäume und Sträucher, und auf der untersten sonnte sich ein beinlanger Leguan, doch der steinernen Macht der Pyramide hatte nichts etwas an. Wie war es möglich gewesen, unter der sengenden Sonne diese gewaltigen Steine hierherzuschleppen? Auf bloßen Schultern, ohne Maultiere und Wagen, wie hatten Menschen, die kein Rad kannten, diese Wucht aufeinander aufgetürmt? »Sie schlafen hier, nicht wahr?«, flüsterte Anavera Otto Bierbrauer zu, weil sie fürchtete, ihre Stimme sei ihr versiegt. »Die alten Götter der Maya, an die niemand mehr glaubt?«
Der kleine Völkerkundler blickte zu ihr auf, als verstünde er nicht. Anavera schlug die Hand vor den Mund und hoffte, dass Sanchez Torrijas Sohn, der drei Schritte vorausging, nicht gehört hatte, wie sie sich lächerlich machte. Aber er hatte sie gehört. Er hielt inne und wandte
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