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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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in ihre Richtung wandte, sah er die zwei schmalen geraden Sehnen, die sich von ihrem Nacken bis zum Ansatz des Haars abzeichneten. Nur ein einziges Mal drehte sie sich zu ihm um und sagte leise: »Können wir bitte einmal anhalten? Ich möchte gern etwas von Nahem sehen.«
    Jaime befahl dem Indio, das Maultier zu zügeln, sosehr es ihm vor dem Stillstand graute. Das Mädchen aber ging unerschrocken in die Hocke, öffnete den niedrigen Schlag und ließ sich in das Gewirr aus Ranken, Farnen und Gestrüpp nieder. »Geben Sie Obacht, meine Schöne!«, rief der Bierbauch. »Das giftige Gewürm bevölkert den Boden wie die Luft.«
    Das Mädchen drehte sich um und sandte dem Bierbauch ein Lächeln. »Keine Sorge, ich bin vom Land, auch wenn mein Querétaro geradezu karg wirkt gegen dies.«
    Sie tat genau das Richtige, prüfte mit einem Stock das dornige Unterholz, ehe sie den nächsten Fuß aufsetzte. So ging sie drei Schritte zurück, hob ein paar grasgrüne Wedel an und legte darunter ein Nest schmaler feiner Blätter im Grün von Pinien frei. Mit dem Kopf wies sie auf die einzelne weiße Blüte, die sich aus der Geborgenheit des Nestes wagte. Schützende Blütenblätter um eine Glocke, die wie aus zartem weißem Glas gesponnen schien. Der Tropfen Sonne, der durch das grüne Dach drang, fiel geradewegs darauf.
    »Nicht zu glauben«, rief der Bierbauch. »Einfach erstaunlich. Wie bedauerlich nur, dass ich mein botanisches Nachschlagewerk samt meiner Reisetasche verloren habe.« Diesen Verlust bedauerte er bei jeder erstaunlichen Pflanzengattung, die ihnen auf dem Weg begegnete.
    »Es ist eine Vanillenorchidee«, sagte das Mädchen so leise, als könnte die Vanillenorchidee von Lärm zerspringen. Mit ihrem tastenden Stock und ihren eleganten Schritten schlich sie sich zum Wagen zurück. »Danke«, flüsterte sie, und der Karren fuhr wieder an.
    Die Fahrt dehnte sich. Mit jeder Meile lastete die Hitze schwerer. Was man trank, schwitzte man sofort wieder aus. Durchnässter Stoff klebte, umschloss die Formen ihrer Körper, verriet die Farbe ihrer Haut. Tauchten sie einmal aus der grünen Höhle auf, um über freies, leeres Land zu fahren, so tat sich kurz darauf eine neue auf und vereinnahmte sie.
    Warum hatte er sich darauf eingelassen, den Bierbauch zu seinen verdammten Maya-Pyramiden zu bringen? Hätte er die gerade Strecke nach Valladolid eingeschlagen, so würden sie jetzt auf abgeholztem Land zwischen geraden Reihen von Henequen-Agaven ihres Weges fahren. Was hatte ihn getrieben? Die Herausforderung? Der Zwang, keine Angst zu zeigen? Die Sucht nach dem Abenteuer?
    Die Luftschichten zitterten. Das Mädchen saß wiederum aufrecht und zeigte ihm die geraden Sehnen seines Halses bis zu dem dunklen Haar, das unter dem Hut hervorschaute. Er hatte sie loswerden wollen, aber sie klebte an ihm wie das Moos an den Stämmen der Zedern und Kapokbäume. Dabei wahrte sie Abstand zu ihm wie sonst kaum ein Mensch. Etwas musste er an sich haben, das Menschen wie Parasitenpflanzen dazu trieb, ihre Finger nach ihm auszustrecken, ihre Hüften an ihm zu reiben, ihm mit bloßen Händen auf die Schultern zu patschen. Der Bierbauch tat es auch. Aber das Mädchen nicht. Zum Ausgleich hatte sie ihn beleidigt, ihm in die Ohren gebrüllt und ihn lächerlich gemacht. Sie hatte in seinem Innersten herumgewühlt und es gewagt, ihn zu schlagen. Ihn zu ohrfeigen wie ein Kind ohne Würde. In der Erinnerung verkrampften sich seine Schultern. Um ein Haar hätte er sie erwürgt.
    Ein wenig fühlte er sich in ihrer Nähe wie inmitten des wuchernden, schreienden, duftenden Grün. Etwas musste er tun, um die Oberhand zurückzugewinnen, sich als Herr der Lage behaupten. Was ihm aber zu tun blieb, fragte er sich seit Tagen und Nächten vergeblich.
    Mehrmals hatte er mit dem Gedanken gespielt, mit ihr umzugehen, wie er für gewöhnlich mit Frauen umging, die seinen Frieden störten – sie zu verführen und wegzuwerfen. Dabei hatte er Verführung nicht einmal nötig. Frauen warfen sich ihm an den Hals, ohne dass er einen Finger krümmte. Die kleine Kreatur, ihre Elfen-Schwester, war darin die Schlimmste gewesen, auch wenn sie etwas Putziges an sich hatte, das ihn beinahe berührt hätte. Diese warf sich ihm nicht an den Hals, was einen gewissen Reiz darstellte. Außerdem war die andere nicht die Tochter des Barbaren. Des Griechisch sprechenden Wilden. Was immer Jaime auf dem Ball nach dem Unabhängigkeitstag in dessen Augen gesehen hatte, und auch wenn der Kerl

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