Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Spitze nicht verkneifen. »Sie brauchen übrigens nicht so zu brüllen, wenn Sie einmal in Ihrem Leben etwas Nettes tun«, sagte sie zu Sanchez Torrijas Sohn und ließ ihn stehen.
Das Abendessen ließ er im Hof servieren, wo es luftig und angenehm war. Es gab ein seltsames Gericht aus gestockten, sauer eingelegten Würsten und Hühnerfleisch, das Anavera und Sanchez Torrijas Sohn zu schwer war, Otto Bierbrauer aber köstlich schmeckte. Er hob sein Glas mit weißem einheimischem Wein, der dick wie Honig floss. »Auf meinen Wohltäter«, sagte er. »Meinen Lebensretter. Ich wünschte, es gäbe auch etwas, das ich für Sie tun könnte.«
»Sie können«, blaffte Sanchez Torrijas Sohn. »Hören Sie mit diesem Gefasel auf und reden Sie lieber wieder von Ihren Sprechkreuzen, Stufenpyramiden oder was Sie sonst dauernd von sich geben.«
»Aber für mich können Sie etwas tun«, rief Anavera, zuerst nur um die Kränkung abzufedern, dann aber, weil es einfach aus ihr heraussprudelte: »Zeigen Sie mir Chichén Itzá. Bitte lassen Sie mich die Stadt der Maya sehen.«
Otto Bierbrauer kratzte sich den kahlen Schädel, wo ein Insektenstich sich zur mächtigen Beule auswuchs. »Ich weiß nicht recht, meine tollkühne Aztekenprinzessin. Ganz ungefährlich ist die Sache nicht. Das Gebiet ist ja nicht völlig erschlossen, es liegt abseits jeglicher Zivilisation …« Dann hielt er inne, und sein Mondgesicht verzog sich zum Lächeln. »Aber natürlich haben Sie recht – welcher Mensch, dem ein Herz in der Brust schlägt, könnte sich eine so einzigartige Gelegenheit entgehen lassen?«
Sie stießen an und zwinkerten einander zu. Sanchez Torrijas Sohn war nicht gefragt worden, und Anavera zog es vor, ihn nicht anzusehen.
Vor der Abfahrt am nächsten Morgen kauften sie Kleidung, die sich für die Weiterreise eignete, Hemden, Hosen oder Röcke aus leichtem grobem Leinen und Tropenhüte mit Moskitoschleiern. Anavera war heilfroh, ihr Kleid, das ihr unrettbar verschwitzt vorkam, loszuwerden. Noch froher war sie, das Telegramm aufzugeben, auch wenn ihr selten etwas schwerer gefallen war als der Text. »Musste dringend verreisen, Erklärung später, bitte keine Sorgen«, füllte sie schließlich in das Formular. »Bin wohlauf und liebe Euch. Anavera.«
Natürlich würden die Eltern sich dennoch Sorgen machen, aber zumindest wussten sie, dass sie in guter Verfassung und von niemandem entführt worden war.
Anschließend begaben sie sich zu der Station vor der Stadt, von der die Linienwagen aufbrachen, um ins geheimnisumwitterte Herz der Halbinsel Yucatán vorzudringen. Anaveras eigenes Herz schlug so heftig, dass ihr in der Hitze der Schweiß ausbrach. Worauf hatte sie sich eingelassen? Kaum wusste sie selbst noch, wie sie in diese Lage geraten war. Die Bilder der letzten Tage, die ihr wie Wochen oder Monate erschienen, verliefen ineinander. Nur eines wusste sie: El Manzanal und ebenso Mexiko-Stadt lagen unendlich weit von ihr entfernt.
Als sie Sanchez Torrijas Sohn in Hemd und Hosen aus dem leichten, dünnen Stoff sah, durchfuhr sie etwas wie ein Schrecken. Ohne den schwarzen Rock, der ihn wie eine zweite Haut umgab, erschien er ihr geradezu nackt. Schutzlos wie an dem Morgen in Veracruz. Aber nicht nur das. Sie konnte ihm nicht ins Gesicht sehen, aus Angst, der Blick könnte ihr abgleiten, dorthin, wo das Hemd am Hals offen stand. Die Vorstellung, endlose Stunden mit ihm in dem engen Reisewagen zu verbringen, war auf einmal beängstigend und ließ sie noch mehr schwitzen.
»Warum starren Sie mich an?«, fragte er. »Habe ich mir das Gesicht beschmiert?«
Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie ihn anstarrte. Sie hatte geglaubt, das Gegenteil zu tun. Er hatte sich nicht beschmiert, nur sein Haar hatte ein wenig von der strengen Ordnung verloren. Die Sonne fing sich darin wie auf dunklem poliertem Holz.
Otto Bierbrauer saß bereits in dem vor zwei mickrigen Schecken gespannten Wagen und streckte den Kopf zum Fenster hinaus. »Ich sage dem Fahrer Bescheid, er soll noch etwas warten«, rief er. »Lassen Sie sich ruhig Zeit. Sie beide hatten ja, seit ich mich Ihnen aufgedrängt habe, keinen Augenblick für sich allein.«
37
D ie Farbe, die ihn einschloss, war Grün. Schleppend langsam zockelte ihr Karren voran, und mit den Fangarmen eines Kraken schien das Grün nach ihm zu greifen. War es möglich, einem Wald beim Wachsen zuzusehen, ihn zu durchqueren und dabei das Maultier treiben zu wollen, weil der Wald auf den Karren zuwuchs,
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