Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Wort heraus. Was ihre Entführer mit ihnen vorhatten, hatten sie ihnen unterwegs erklärt. Sie waren Cruzoob, Kämpfer für das Heilige Kreuz, auch wenn sie nicht aus Chan Santa Cruz stammten, sondern aus einem unabhängigen Dorf unweit des heiligen Cenote. Sie kämpften an der Seite des Maya-Staates gegen die Dzulob, die weißen Yucatecos, die Ausbeuter. Ihre Gefangenen würden sie ihrem Tatich, dem Obersten ihrer Siedlung, übergeben.
Sie brauchten Sklaven, um Land für Felder abzuholzen, denn die dünne Erde ließ sich nicht länger als drei Sommer nacheinander bebauen. Zum selben Zweck hatten die Dzulob jahrhundertelang Sklaven gebraucht, und wenn die Kräfte der Sklaven verbraucht waren wie die Kraft der dünnen Erde, hatten sie sie liegen und sterben lassen.
»Seid ihr Tiere?«, hatte Jaime gebrüllt. »Der alte Mann kann kein Feld abholzen. Lasst ihn gehen!«
Dafür hatten sie ihn mit ihren Fäusten niedergeschlagen. Als sein Kopf aus dem Knäuel der Männer wieder auftauchte, blutete seine Stirn, und er brüllte nicht mehr. »Ich bin Jaime Sanchez Torrija«, sagte er. »Ich besitze zwei große Plantagen hinter Valladolid, zwei Silberminen und weiteres Land auf der anderen Seite von Mexiko. Ihr braucht nicht nur Sklaven, ihr braucht auch Geld für Waffen und um eure Soldaten zu ernähren. Meine Leute zahlen euch jedes erdenkliche Lösegeld für uns. Lasst den alten Mann laufen und aus Mérida ein Telegramm an meinen Verwalter schicken. Er wird jede Forderung erfüllen, die ihr ihm stellt.«
Schier endlos hatten die Cruzoob miteinander beratschlagt, doch letzten Endes ließen sie sich überzeugen. Sie befahlen Otto Bierbrauer, ihre Forderungen zu notieren, und wiesen ihn an, den Boten mit dem Geld zum heiligen Cenote zu schicken, wo ihn jemand erwarten würde. Dann ließen sie den kleinen Mann, der am Ende seiner Kraft war, seines Weges taumeln. Ob er es geschafft hatte, sich zu ihrem Karren durchzuschlagen, oder ob ihr Fahrer gar derjenige gewesen war, der sie an die Cruzoob verraten hatte, würden sie womöglich nie erfahren. Auf sich gestellt war Otto Bierbrauer in der Dichte des Waldes verloren, aber daran wollte Anavera nicht denken. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass Otto Bierbrauer wohlbehalten in Mérida angekommen war. Daran mussten sie sich festhalten.
Als sie das von Dickicht umgebene Dorf erreichten, war bereits eine tiefe, sternenklare Nacht aufgezogen. Ein einziger Ziegelbau stand inmitten der Chozas, der reetgedeckten Lehmhütten. Darin wurde, wie sie inzwischen wussten, das Allerheiligste aufbewahrt – ein Kreuz, das in Chan Santa Cruz gesegnet worden war und damit an der Macht des sprechenden Kreuzes Anteil hatte. Auf dem Dorfplatz brannte eine Fackel, und aus allen Hütten liefen Männer zusammen. Einer von ihnen, ein wie aus Draht gebauter Mann mittleren Alters, war der Tatich, der Anführer, der den Übrigen gebot. In Mayathan redeten ihre Entführer auf ihn ein, während Jaime und Anavera, von mehreren Männern gehalten, vor ihm stillstehen mussten.
»Was sagen sie?«, flüsterte Jaime Anavera zu.
»Woher soll ich das wissen?«
»Aber du verstehst doch …«
»Nahuatl«, fuhr sie ihm patzig ins Wort, »nicht Mayathan. Verstehst du Griechisch, weil du aus Spanien kommst?«
»Nein«, flüsterte er kleinlaut. »Ich bin ein Barbar.«
In dem Augenblick hatte sie ihn geliebt. Sie hatte Todesangst, sie war in der erbärmlichsten Lage ihres Lebens, und irgendwo, in einer weit entfernten Stadt, saß ihr Verlobter dieses Mannes wegen im Gefängnis. Dennoch dachte sie völlig nüchtern und ruhig: So also ist es, einen Mann zu lieben. Nicht weil es gut ist, nicht weil alle Welt es erwartet, sondern weil man es tut.
Als die Beratung zu Ende war, packten zwei der Männer Jaime bei den Armen, um ihn fortzuschaffen. Zwei andere stießen Anavera in den Rücken, so dass sie dem drahtigen Tatich entgegenstolperte. Der fasste sie mit einer Hand ums Gelenk, wandte sich zum Gehen und wollte sie mit sich zerren.
Als Anavera begriff, was das Geschehen bedeutete, erstarrte ihr die Stimme, und ihr Blut wurde kalt. Sie konnte nicht einmal schreien. Doch statt ihrer schrie Jaime. Da er hinter ihr stand, sah sie nicht, mit welchen unglaublichen Kraftreserven er sich losriss, zu ihr rannte und sie aus der Hand des Tatich in seine Arme zog. Nur die Arme spürte sie. Und die Wärme. »Wie könnt ihr dem Mädchen etwas antun?«, brüllte er. »Sie ist keine Weiße, sie ist an nichts schuld. Wenn ihr
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